36 | KAFFEE

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Der nächste Morgen war noch immer verregnet. Eva schlug die Bettdecke zurück und griff nach Bürste und Haarband, die auf dem Nachttisch lagen, noch bevor ihre Füße den Boden berührten. So war das jeden Morgen. Das heißt eigentlich ging der erste Griff für gewöhnlich zur kleinen Fernbedienung für den Wecker, doch das konnte sie sich an diesem Morgen sparen. Sie stand auf und stellte sich vor den kleinen Spiegel. Einen Moment dachte sie darüber nach, was sie davon abhielt, die Haare offen zu tragen. Nachdem sie die halbe Nacht Gespräche geführt hatte und elektronische Dokumente bestätigen musste, hatte man ihr den Tag freigegeben. Sie musste das Haus nicht verlassen, wenn sie nicht wollte, und Solvejg würde es vermutlich nicht interessieren, wie sie ihre Haare trug. Und dennoch konnte sie sich nicht überwinden.

Noch im Nachthemd aber mit streng geordneten Haaren öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Sie sah zu dem Mädchen auf dem Sofa. „Frau!", korrigierte sie sich sofort leise. Solvejg war fast so alt wie sie und jetzt ihre Mitbewohnerin. Sie musste dringend lernen, sie nicht mehr als Mädchen zu sehen, wie es das Klinikpersonal tat. Die Bettdecke war zu Boden gefallen. Ob es daran lag, dass sie zu groß für das schmale Sofa war oder Solvejg sie absichtlich weggestoßen hatte, konnte Eva nicht sagen. Es war nicht besonders kühl im Wohnzimmer, und Eva war schon oft aufgefallen, dass Solvejg kältere Temperaturen bevorzugte.

Die Haltung sprach jedenfalls nicht dafür, dass ihr zu kalt war. Solvejg lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Rückenlehne gedreht, ein Arm hing lang ausgestreckt seitlich des Sofas herunter. Das eindeutig zu große T-Shirt, das Eva ihr zum Schlafen gegeben hatte, war hochgerutscht und Eva betrachtete, den Ansatz der Rippen und Solvejgs Bauch, der sich im Takt ihres Atems ruhig und fast unmerklich bewegte. Ein angenehmes Gefühl überkam Eva. Sie hatte ihrer Patientin geholfen, hatte aus der durchgefrorenen, panischen Solvejg, die am Vorabend in ihren Flur gestolpert war, eine zufrieden und ruhig schlafende Solvejg gemacht. Natürlich war das eine weit weniger schwierige Aufgabe als die Fälle, die sie als Psychologin in großer Zahl gemeistert hatte, doch einerseits war der Erfolg in diesem Fall sichtbarer, und andererseits regte er eine Seite in ihr, die sie bislang nie zugelassen hatte. Sie war nicht analytisch und kalkulierend vorgegangen, sondern instinktiv und fürsorglich.

Eva stellte fest, dass sie die Schlafende noch immer beobachtete und den Drang verspürte, ihr über die Stirn zu streichen. Sie wandte sich ab und bemerkte, dass ihr Puls schneller ging. Diese neue Seite, die sie an sich entdeckt hatte, gefiel ihr zwar, machte ihr aber auch Angst. Zu schnell wollte sie Besitz von Eva ergreifen. Sie öffnete die Tür zum Bad und verschwand darin. Sie brauchte jetzt Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen, und was war dafür besser geeignet, als eine lange, einsame Dusche?

Als sie schließlich in einen knielangen Bademantel gehüllt das Bad wieder verließ, war Solvejg nicht mehr auf dem Sofa. Die Decke war sauber gefaltet und über die Armlehne des Sessels gelegt, das Kissen aufgeschüttelt und quer darüber gelegt. Eva erkannte die Ordnung der Krankenhausbettwäsche wieder, die Solvejg angenommen und perfektioniert hatte. Ein plätscherndes Geräusch aus dem Raum nebenan ließ sie aufhorchen. Sie trat durch die kleine Tür in die Küche und sah Solvejg mit der Kaffeemaschine kämpfen. Ihre Patientin hatte das Frühstück gemacht. Und wie. Der Tisch war für zwei Personen eingedeckt, die spärlichen Inhalte an Brotaufstrich, Käse und Aufschnitt aus Evas Kühlschrank waren sauber in einem ordentlichen Kreis um die hölzerne Brotschale angeordnet. Zwei gekochte Eier dampften in zwei der albernen Eierbecher, die Eva vor Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte und wie tanzende, bunte Kühe gestaltet waren.

Eva musste daran denken, wie ihre Mutter das letzte Mal hier in ihrer Wohnung gewesen war. Es war vor drei Jahren, als es ihr für ein paar Monate so gut ging, dass sie die Anstalt verlassen konnte. Sie hatte wie ein Fremdkörper am Küchentisch gesessen, die Hände nervös im Schoß vergraben, während sie sich bemühte, ihrer Tochter in die Augen zu blicken, was ihr jedoch nicht besonders gut gelang. Es war kein langer Besuch gewesen, ein gemeinsames Frühstück, ein Spaziergang durch den kleinen Park, ein Mittagessen unten am Anleger. Eva fiel auf, dass das Mittagessen eigentlich ganz schön gewesen war. Sie hatten den ganzen Vormittag gebraucht, um Anlauf zu nehmen für die letzte Stunde, bevor ihre Mutter wieder fahren musste. Ein zähes, schwer ertragbares Anlaufnehmen. Aber als sie dort im Restaurant saßen und die Speisekarte studierten, begann ihre Mutter, ein paar haarsträubende Geschichten aus der Kantine ihrer Anstalt zu erzählen. Und sie lachte dabei vorsichtig, um ihrer Tochter zu zeigen, dass sie sich nicht beschweren wollte, dass sie sich an den kleinen, skurrilen Dingen des Lebens erfreuen konnte. Eva stieg mit ein und erzählte von der Krankenhausküche. Und sie stellte fest, dass sie es selbst bitter nötig hatte, das Leben etwas lockerer zu sehen, wenn sie nicht enden wollte, wie ihre Mutter.

„Das funktioniert nicht logisch!", beschwerte sich Solvejg und holte Eva aus ihren Erinnerungen zurück. Sie versuchte es noch einmal. Gemahlener Kaffee in den Filter, Wasser in die Kanne, Wasser in den Filter und die Kanne schnell drunter stellen, doch die braune Brühe tropfte bereits wieder auf die Arbeitsfläche. Eva lachte.

„Vom Prinzip her richtig, aber die Maschine funktioniert etwas anders", sie ging zu Solvejg hinüber, die unglücklich auf die Kaffee- und Wasserflecken auf dem T-Shirt sah.

„Ich durfte bisher nie den Kaffee machen", erklärte Solvejg.

Eva wusste, dass Solvejg oft in der Küche der Klinik geholfen hatte. Sie brauchte Beschäftigung, und nachdem sie das Zusammenlegen der Bettwäsche jeden Morgen nicht mehr richtig ausfüllte, fand sie beim Küchenpersonal neue Aufgaben. Die Leute aus der Küche liebten Solvejg, eigentlich galt das für alle, die nicht als Ärzte im Krankenhaus arbeiteten. Doch offenbar war sie in der Küche noch nicht soweit gewesen, dass man ihr den Kaffee anvertraut hätte.

Sie erklärte Solvejg die Funktionsweise der Maschine, während sie das Gemisch aus kaltem Wasser und Kaffeepulver aufwischte, dann setzte sie sich an den gedeckten Tisch und ließ Solvejg einen neuen Versuch starten. Die Küche war morgens Evas liebster Ort in der Wohnung. Sie lag an der Ecke des Hauses und war an zwei Seiten vollständig verglast. Von ihrer gemütlichen Kücheneinrichtung aus konnte sie durch die Nachbarschaft sehen, während das Licht – selbst an verhangenen Tagen wie diesem – kraftvoll in den Raum drang und sie einhüllte. In der Ecke der Küche, an der sich die beiden gläsernen Wände trafen, stand ein großer, gemütlicher Sessel, den Eva vor einigen Jahren, als sie in die Wohnung gezogen war, bei einem Antiquitätenhändler unten an der Elbe gekauft hatte, der sein Geschäft auflöste. Sobald sie richtig angezogen war, setzte sie sich an freien Tagen in diesen Sessel und beobachtete die Welt, die ihr dort zu Füßen lag.

Solvejg hatte die Maschine mittlerweile dazu gebracht, auf die richtige Art und Weise Kaffee zu machen. Zufrieden trat sie einen Schritt zurück und beobachtete den heißen Kaffee, der träge in die gläserne Kanne tropfte. Dann warf sie einen erneuten Blick auf das T-Shirt und rieb an den Kaffeeflecken.

„Du musst das dreckige Shirt nicht anbehalten. Ich habe dir im Bad frische Kleider raus gelegt, die müssten einigermaßen passen. Nach dem Frühstück frage ich den Portier, ob deine Sachen aus der Klinik schon gekommen sind." Eva richtete sich leicht auf, als Solvejg nickte und sich das T-Shirt auszog. Sie wollte der Hausanlage bereits das Kommando geben, die Scheiben abzublenden, doch ihre Patientin setzte sich bereits ins Bewegung in Richtung des Bads. Als sie an Evas Stuhl vorbeikam, hielt sie eine Sekunde inne. Eva sah unsicher zu Solvejg auf und erkannte, dass diese offenbar über etwas nachdachte. Dann schien Solvejg zu einem Entschluss gekommen zu sein. Sie legte die Arme um Evas Hals und gab ihr einen mechanisch wirkenden Kuss auf die Stirn.

„Danke", sagte Solvejg und verschwand in Richtung des Badezimmers.

Eva brauchte einige Sekunden um nicht drei Sachen gleichzeitig zu denken. Einerseits musste sie lachen. Sie erkannte in der Geste Rena Jakowic wieder, die korpulente, ältere Dame, die die Küche im Klinikum leitete und Solvejg jeden Morgen genau auf diese Art und Weise für ihre Hilfe dankte. Und auch wenn Solvejgs Abläufe einstudiert waren, so hatte sie doch die Geste des Dankes auf eine andere Situation übertragen. Das war ein Fortschritt. Andererseits würde sie Solvejg erklären müssen, warum es nicht angemessen war, sich in der Küche halb auszuziehen. Es war nicht so, dass es Eva empfindlich gestört hätte, doch sie kannte ihre Patientin und war sich sicher, dass sie zwischen Privatraum und Öffentlichkeit nur schwer unterscheiden konnte. Es war einfach zu erklären, und Solvejg würde nicht beleidigt sein, wenn man ihr erklärte, wann Schamgefühl in welchem Maße angemessen war, aber es war nicht gerade ein Thema, mit dem sich Eva besonders wohl fühlte.

Undzuletzt war da etwas, das Eva erschrecken ließ. Das Gefühl von Fürsorge, dassie überkam, als sie Solvejg schlafend auf dem Sofa beobachtet hatte, es warnoch einmal zurückgekommen, als sie die nackten Arme Solvejgs um ihren Halsgespürt und ihren blassen, schmalen Oberkörper direkt vor ihrem Gesicht gesehenhatte. Und Eva fragte sich, ob es wirklich nur Fürsorge war, die sie empfand.Sie durfte sich davon jetzt nicht verwirren lassen. Die Situation einePatientin bei sich aufgenommen zu haben und die Tatsache ihre Wohnung vorerstnicht für sich alleine zu haben waren kompliziert genug.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt