12 | MAGRITTE PARC

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Für einen Wissenschaftler in Paris gab es kaum eine bessere Adresse als Magritte Parc. Es gab bekanntere und größere Wohnanlagen mit höherem Prestigewert, doch diese waren Konzernoberen und hohen Politikern vorbehalten sowie den wenigen Stars des Showbiz die mit Ersteren in näherem Kontakt standen. Als Wissenschaftler war ein Appartement in Magritte Parc das höchste aller materiellen Ziele. Und sie gehörte zu den modernsten Anlagen der Stadt. Das lag natürlich auch an den Bewohnern. Der ganze Komplex war aus Baumodulen aufgebaut worden, die mit umfassenden Schnittstellen ausgerüstet waren, um jederzeit neue Upgrades der neuesten Wohnsoftware einzuspielen und zu testen. Und Wissenschaftler, die in unmittelbarer Nähe zu standardoffenen Schnittstellen lebten, konnten selten ihre Finger von diesen lassen.

In der obersten Ebene auf der Nordwestseite des Magritte Parc brannte noch Licht in einem der Appartements. Professor Doignac, Leiter des wissenschaftlichen Zweiges des Instituts für Sangre-Forschung, stand an der verglasten Seite seines Wohnzimmers und diktierte seinem privaten Journal einen Eintrag. Obwohl er zu den Spitzen der Fortschrittlichkeit von Paris gehörte, pflegte er seine Traditionen. Er besuchte die jährliche Messe für Weinanbau, auf die ihn sein Vater immer mitgenommen hatte, er hielt sich strikt an seine feste Mittagspausenzeit, was für jemanden in seiner Position eher ungewöhnlich war, und er besuchte die Enkel seiner verstorbenen Schwester jedes Jahr zu Weihnachten, obwohl er weder deren Eltern noch christliche Feste leiden konnte.

Das Führen des Journals jedoch war keine dieser Traditionen, auch wenn es sich manchmal so anfühlte. Er hatte auf Anraten seiner Ärztin vor einigen Jahren damit angefangen, um mit dem Verlust seines Lebensgefährten fertig zu werden. Das war in etwa zu der Zeit, als er nach Magritte Parc gezogen war. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er jeden Abend seitdem dort gestanden, über die Lichter der Stadt hinüber zum beleuchteten Eiffelturm geblickt und einige Zeilen an seinen verstorbenen Yanis gerichtet. Oft hatte er – aus Müdigkeit oder Trägheit – die Einträge kurz gehalten, immer mit dem Hinweis, dass sich Yanis sowieso nie sonderlich für seine Arbeit interessiert hatte, doch in den letzten Wochen waren die Einträge immer länger geworden.

„Ich warte auf ihren Anruf, Yanis. Entschuldige, dass ich so abrupt anfange, aber ich brauche dir doch keine Einführung mehr in meine Geschichte zu geben, nicht wahr? Sowas wie 'Das letzte Mal bei Professor Doignac' ... Ich will zumindest hoffen, dass du nur mein Journal hörst. Ich weiß, du hast früher ein leichtes Leben geführt – jeder steht schließlich auf den Jazzer mit Schlapphut und rauchiger Stimme – aber in deinem Alter solltest du langsam sesshaft werden. Du fragst dich bestimmt, warum dieses Verwirrspiel, oder? Dazu habe ich noch nichts gesagt. Entschuldige, ich will keine Geheimnisse vor dir haben, aber ich hatte einfach Angst, jemand könne mein Journal anzapfen. Und ja, natürlich weiß ich, dass das kaum möglich ist, ich habe es selbst so gut codiert wie meine besten wissenschaftlichen Arbeiten nicht. Aber die Angst ... du wirst verstehen, sie ist mein ständiger Begleiter seit damals.“ Der Professor wandte sich vom Fenster ab und griff nach seinem Weinglas, das auf der nahen Konsole stand.

„Ich bin immer noch gut in dem, was ich tue. Sequana hat bis jetzt nicht gemerkt, dass ich längst weiß, mit wem ich es zu tun habe. Ich hatte gedacht, sie wäre mir irgendwann auf die Schliche gekommen. Aber so denken Klone nicht. Außer Ninive. Sie ist etwas einzigartiges, Yanis. Und werde nun bitte nicht eifersüchtig du alter Dummkopf! Du weißt, wie ich das meine. Irgendetwas ist mit ihr, das ich nicht entschlüsseln kann. Und das nagt an mir. Ich weiß, dass sie die vermeintlichen Neurohemmer abgesetzt hat, und sie zeigt prinzipiell dieselben Instabilitäten wie die anderen ihrer Art – allerdings nur auf dem Papier. Die Ergebnisse des EEGs, die unterbewussten Reaktionstests ... alles zeigt die gestörten Auffälligkeiten eines künstlich geschaffenen Somatonikers. Doch wenn man dann vor ihr steht, könnte man denken, sie wäre ein Mensch. Ein ganz normaler Mensch, meine ich. Und genau das ist es, was mich ins Grübeln brachte. Und die Auswahl, die auf sie fiel. Ich hatte mich umgehört, dachte, warum das Risiko eingehen, einen Klon mit auf eine Mission zu nehmen, der zur nicht steuerbaren Kategorie gehört? Dass sie nicht auf Neurohemmern ist, müssen die doch auch in ihrem Eignungscheck gemerkt haben. Ich konnte mir das nicht erklären.“

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt