46 | GIN

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„Zieh deine Bluse aus, ich komme gleich zu dir."

Eva nippte an ihrem Glas. Der kühle Gin kribbelte angenehm beim Schlucken. Seit einigen Jahren bereits hatte Eva kaum ein Glas Alkohol getrunken, meistens blieb es bei einem Bier nach Feierabend. Vor Jahren hatte sie sich mal an Wein versucht, nachdem die Leitung der Aljoscha Klinik ihr zum Beginn ihrer neuen Stelle eine sündhaft teure Flasche aus Paris eingeführten Rotweins geschenkt hatte. Doch sie selbst konnte sich die seit dem endgültigen Zusammenbruch der regulären Handelswege zwischen den Städten des Kontinents nach der Zerstörung Amsterdams ständig steigenden Preise für importierte Waren nicht leisten. Und der Wein aus den gigantischen Gewächshäusern in den elbaufwärts liegenden Vororten Hamburgs war nicht von vergleichbarer Qualität.

Eva stellte das Glas zur Seite und knöpfte bedächtig ihre Bluse auf. Es war angenehm warm in der Wohnung, vor allem nachdem sie aus dem aufziehenden Sturm in den Schutz ihrer Räume zurückgekehrt war. Sie hatte Solvejg während des kleinen Abendessens von ihrem Tag berichtet und dem Sturz auf dem Fährboot. In der Klinik hatte Solvejg die Dinge fast bis zur Perfektion gelernt, die tagtäglich um sie herum geschehen waren. Dazu gehörte auch die Versorgung von Wunden und die Behandlung von Patienten, die lange bettlägerig waren. Als Eva bereits zum dritten Mal über den Schmerz in ihrer Schulter geklagt hatte, wurde ihre Mitbewohnerin aktiv.

Und so legte Eva schließlich ihre Bluse zur Seite, nahm noch einen großen Schluck und streckte sich dann lang bäuchlings auf dem Sofa aus, den Kopf so zur Seite gedreht, dass sie aus dem Fenster blicken konnte. Sie betrachtete die hell erleuchteten Wohnungen in den gegenüberliegenden Gebäuden und stellte fest, dass sie dies zum ersten Mal wieder bewusst tat seit dem Abend, an dem Solvejg zu ihr gekommen war. Seitdem hatte das Leben innerhalb ihrer Wohnung ihre ganze Aufmerksamkeit. Auch die Fensterscheiben hatte sie nicht mehr abgeblendet, wie sie jetzt zum ersten Mal bewusst feststellte. Es war ihr einfach egal gewesen, wer dort draußen war und vielleicht einen Blick auf ihre Wohnung werfen konnte.

Vermutlich war es dem Gin zu verdanken, dass sie bei diesem Gedanken leise kicherte anstatt rot zu werden. Solvejg kam mit einem kleinen Korb aus dem Badezimmer zurück und kniete sich vor das Sofa. Eva spürte ihre warmen Finger an ihrer Schulter, wie sie vorsichtig den Bereich abtasteten, auf den sie gefallen war.

„Ein großes Hämatom ist das", verkündete Solvejg schließlich. „Und da ...", ihre Finger wanderten an Evas Seite hinunter zum Rippenansatz. „Hier ist noch eins. Tut das weh?"

Der Druck, den sie ausübte, war nicht stark, aber er kam unvorbereitet. Eva zuckte zusammen und krümmte überrascht den Oberkörper.

„Hmmm ...", machte Solvejg. „Leg dich ruhig hin, ich nutze die Salbe lieber großflächig." Sie drehte eine Tube mit Salbe auf und zögerte eine Sekunde, dann öffnete sie unvermittelt Evas BH und zog ihr den Träger über die Schulter, bevor sie anfing, die Salbe großzügig zu verteilen.

Eva biss sich auf die Unterlippe. Ihr Blick fixierte sich auf ihre Schulter und den Träger ihres BHs, der an ihrer Seite herabhing. Ohne den Gin wäre sie spätestens jetzt so nervös geworden, dass ihr jedes Mittel recht gewesen wäre, die Behandlung durch Solvejg möglichst schnell zu beenden. Doch ob es der Alkohol war oder einfach nur die Tatsache, dass sich nach einem entnervenden Tag eine beruhigende Gleichgültigkeit eingestellt hatte, in diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie aus der Situation herauskam. Vielmehr ertappte sie sich bei dem Gedanken, wohin das noch führen konnte. Was wäre, wenn sie Solvejg sagte, sie hätte sich beim Hinfallen auch die Hüfte verletzt? Für einen Augenblick erschien ihr diese Möglichkeit verlockend. Sie atmete tief ein und aus und blickte wieder aus dem Fenster in die Hamburger Nacht.

„Die Salbe bitte noch einwirken lassen", zitierte Solvejg eine der Pflegerinnen aus der Klinik. „Möchtest du noch ein Glas Gin?"

„Ja bitte", entgegnete Eva und warf Solvejg einen Blick zu, als diese ihr leeres Glas genommen hatte und in Richtung Küche verschwand. Sie zögerte eine Sekunde, dann setzte sie sich auf der Sofakante auf, legte ihren BH zur Bluse und stützte die Ellenbogen auf ihren Knien ab. Wie würde ihr nächster Schritt aussehen? Was riskierte sie da eigentlich? Selbst wenn sie alle möglichen Konsequenzen beruflicher Art außer Betracht ließ, wäre Solvejg überhaupt bereit dafür, ihr körperlich näher zu kommen? Dass ihre Patientin Körperkontakt bei ihr nicht scheute, das wusste sie mittlerweile, doch hatte es eher etwas kindlich Naives.

„Bitte", sagte Solvejg, die fast lautlos wieder aufgetaucht war und ihr ein neues Glas Gin reichte. Eva nahm es entgegen, während Solvejg sich neben sie auf das Sofa setzte und sich zurücklehnte.

„Ich habe heute die Schiffe wieder gesehen. Sie sind jetzt ganz nah." Solvejg griff zur Tube mit der Salbe und nahm etwas davon auf die Hand.

„Die Schiffe ... bist du sicher, dass es sie wirklich gibt?", fragte Eva und spürte Solvejgs Finger an ihrer Seite, als sie Salbe entlang ihres Rippenbogens nach vorne verteilte.

„Warum sollte ich von etwas berichten, das nicht da ist?", gab Solvejg zurück und fuhr weiter mit der Hand über Evas Rippen.

„Das weiß ich nicht, es ist nur so, dass ich diese Schiffe nicht sehen kann."

„Und deshalb sollen sie nicht da sein?", fragte Solvejg interessiert.

„Nein, das will ich damit nicht sagen. Und bitte glaube mir, dass ich nicht an dem zweifele, was du sagst, aber", Eva holte Luft, „es ist nicht leicht, das für mich zu begreifen. Und für meine Berichte an die Klinik muss ich aber versuchen, es zu begreifen."

„Ich versuche es das nächste Mal besser zu erklären", entgegnete Solvejg zurückhalten. Sie zog ihre Hand zurück. Ihre Finger berührten Eva dabei unbeabsichtigt an der Brust. Ein Kribbeln fuhr durch ihren Oberkörper und sie spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. Eva wollte instinktiv nach ihrer Bluse greifen.

„Die Salbe bitte noch einwirken lassen", bemerkte Solvejg pflichtbewusst. Eva nickte knapp und griff stattdessen nach ihrem Glas Gin.

„Eva?", begann Solvejg, nachdem sie eine Weile stumm nebeneinander gesessen hatten.

„Hm?", entgegnete Eva.

„Wir sollten ausgehen."

„Ausgehen?", Eva sah Solvejg überrascht an.

„Ja. Tanzen gehen. Ich muss lernen, wie so etwas funktioniert."

„Ich muss aber morgen ...", Eva verstummte. Sie musste am nächsten Tag arbeiten, jedoch erst zur Spätschicht. Eine Sekunde lang wollte sie nach einer geeigneten Ausrede suchen, doch dann dachte sie darüber nach, welchen Grund sie hatte nicht mit Solvejg tanzen zu gehen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie noch darauf hoffte, den Moment mit Solvejg noch intimer werden zu lassen, doch der Mut – oder der Leichtsinn – der dafür notwendig war, hatte sie verlassen. Und so erschien es ihr als willkommene Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen. Und sich wieder vollständig anzuziehen.

„Also gut, gehen wir aus! Haben wir etwas Spaß!", stimmte sie schließlich zu.

„Machen wir uns ausgehbereit?", fragte Solvejg und ihre Betonung ließ vermuten, dass sie keine Ahnung hatte, was das bedeuten sollte. Dennoch war sie bereits begeistert vom Sofa aufgesprungen.

„Machen wir. Ich helfe dir", entgegnete Eva und griff nach BH und Bluse, „geh schon mal ins Bad."

„Okay", entgegnete Solvejg, dann sah sie Eva an und teilte ihr mit, bevor sie ging: „Du hast sehr schöne Brüste."

Eva blieb regungslos sitzen, während sie hörte, wie Solvejg im Bad verschwand und die Tür hinter sich schloss. Es war nicht das erste Mal, dass Solvejg sie mit Äußerungen überraschte, die in der Situation unpassend wirkten. Vermutlich hatte sie in einem Film oder interaktiven Roman aufgeschnappt, dass sich Frauen untereinander solche Komplimente  machten, wenn sie sich ausgelassen auf eine Party vorbereiteten. Eva musste zugeben, selbst wenig Praxiserfahrung zu haben, doch sie vermutete stark, dass diese mediale Darstellung einer Partyvorbereitung eher auf die Fantasie von männlichen Autoren zurückging, als dass es tatsächlich der Realität entsprach. Andererseits wusste sie auch, dass Solvejg solche Äußerungen nur dann machte, wenn es auch zu ihrer Meinung passte. In gewisser Weise schmeichelte ihr das auf eine verstörende Art und Weise. Und so saß sie auch noch einige Minuten dort auf dem Sofa, bevor sie sich schließlich den BH anzog und ins Schlafzimmer ging, um sich ein geeigneteres Oberteil zu suchen.

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