39 | CLAUDETTE

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Die Kaffeetasse hinterließ einen schmalen Ring auf der Oberfläche des Schreibtischs. Julien wischte mit dem Ärmel seines Hemds nachlässig darüber, bevor er aufstand und zur Kaffeemaschine ging, die hinter ihm auf dem Sideboard stand. Er drehte der Besucherin den Rücken zu und goss sich die Tasse in aller Ruhe randvoll. In der ersten Stunde nach Öffnen der städtischen Archive kam eigentlich nie ein Besucher, und Julien empfand es als Störung seines Arbeitsalltags, dass diese Frau bereits vor den Türen wartete, als er sie geöffnet hatte. Und dann stellte sie auch noch Fragen. Die wenigen Besucher, die in seine Abteilung kamen wussten normalerweise, was sie suchten, und ihre einzige Kommunikation mit ihm bestand aus einem verstohlenen Nicken in seine Richtung.

Julien war glücklich damit. In seinen Augen kamen in das Personenregister nur Leute, die zwielichtigen Dingen nachgingen. Wer wusste schon, warum sie Personen suchten? Er wollte es jedenfalls nicht wissen.

„Entschuldigen Sie!", meldete sich Sequana energischer zu Wort. „Ich suche eine Person, könnten Sie mir dabei weiterhelfen?"

„Selbstverständlich", entgegnete Julien gedehnt und machte keinen Hehl daraus, dass er das als ganz und gar nicht selbstverständlich empfand. „Die Einträge sind alphabetisch geordnet. Die Register für die jeweiligen Anfangsbuchstaben der Nachnamen entnehmen Sie bitte den Wegweisern im Treppenhaus, dafür sind sie schließlich da."

Sequana rollte mit den Augen und atmete tief ein. Sie hatte Mühe sich zu beherrschen. Der Drang ihm etwas mehr Höflichkeit einzuprügeln war stark, aber sie wollte nicht unnötig Aufsehen erregen.

„Soweit bin ich auch ohne Ihre Hilfe gekommen", erwiderte sie gereizt, „könnten Sie mir vielleicht auch noch sagen, wie es mit Klonen aussieht? Wie sind die im Register verzeichnet?"

„Klone?", Julien hob die Brauen und sah sie über den Rand seiner altmodischen Lesebrille an. „Dritter Stock, das Archiv ist aber verschlossen."

„Und wie bekomme ich Zugang dazu?" Sie ballte die Faust und warf einen Blick auf die Kaffeetasse, die Julien vorsichtig zum Schreibtisch balanciert, damit nichts überschwappte.

„Ich muss Ihre ID einlesen und diese für den Zugang freigeben."

„Dann tun sie das!", knurrte Sequana ungehalten und zog ihre ID-Card hervor. Sie war nicht besonders glücklich darüber, dass ihre ID damit Eintrag in ein öffentliches Protokoll fand, aber sie musste das Risiko eingehen, wenn sie an Informationen kommen wollte. Wenn sie jetzt zögerte, würde Julien misstrauisch werden, und ihre Chancen würden deutlich schwinden, etwas über Sasha Bréa zu erfahren.

Er ließ sich Zeit für seinen Kaffee, bevor er sich daran machte, die ID einzulesen. Sequana trommelte ungeduldig mit den Fingerknöcheln auf den Schreibtisch, dann hielt sie plötzlich inne.

„Das ist eine schöne Kaffeetasse, die Sie da haben", sagte sie freundlich.

„Was? Oh, ja ...", entgegnete Julien und gab ihr ihre ID-Card zurück, „die habe ich von meiner Tochter vor vielen Jahren zum Geburtstag bekommen." Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. „Gut, Ihre ID ist jetzt freigeschaltet, aber nur für die nächsten zwei Stunden, danach müssen Sie die Zugangsberechtigung verlängern.

„Danke", brachte ihm Sequana entgegen und drehte sich in Richtung Treppenhaus um. Während sie auf die Tür zuhielt, hinter der sich die Treppe nach oben befand, schloss sie die Augen und konzentrierte ihre Energie, um den Körper dann für eine Sekunde anzuspannen und ... sie hörte das Splittern und Klirren der Kaffeetasse. Julien schrie erschrocken auf, und sie hörte, wie sein Stuhl nach hinten gestoßen wurde. Kaffee lief über den Tisch und tropfte zu Boden, doch das schien ihm nicht so wichtig zu sein, wie das zerstörte Andenken.

Das Archiv für die Klone machte den Eindruck, als sei dort seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen. Auch nicht um Staub zu wischen. Sequana hatte fast damit gerechnet, dass über die Klone in den offiziellen städtischen Archiven kein Register geführt wurde, denn seit langem schon spielten die Kinder des Sangre-Instituts in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle mehr. Die ganze Forschung des Instituts war immer mehr auf das Abstellgleis geschoben worden, seit es in den 90er Jahren die letzten bewilligten Experimente gegeben hatte, deren Ziele eine Relevanz für die Menschen außerhalb der Institutsmauern gehabt hätten, wären diese erreicht worden.

Das, was Sequana in den letzten zwei Tagen über Doignac und seine Geheimnisse erfahren hatte, veranlasste sie dazu, an den Motiven und Zielen der Sangre-Forschung zu zweifeln, und doch empfand sie in diesem Moment Dankbarkeit dafür, dass Doignac und Gallea den Mut bewiesen hatten, neue Wege zu gehen und den Klonen ein besseres Leben zu ermöglichen. Ihre Freiheit wäre ohne den Einsatz der beiden Professoren nicht möglich gewesen. Und das Blut der getöteten Probanden klebte damit auch an ihr. Natürlich war es nicht ihr Handeln und ihre Entscheidung gewesen, aber sie trug eine Verantwortung dafür, und diese Erkenntnis änderte ihre Sichtweise. Sie wollte Doignac finden, aber nicht deshalb, weil er sie beauftragt hatte, sondern weil sie Antworten wollte, die den Sangre-Kindern helfen konnte. Und noch mehr als das wollte sie Sasha finden.

Die Daten zu Klon #S-10 enthielten jedoch kaum Antworten, aber immerhin warfen sie neue Fragen auf. Sequana machte eine Geste vor dem veralteten Terminal und zoomte auf das einzige Bild, das in der Akte hinterlegt war. Es zeigte Doignac in jüngeren Jahren mit seinem Mentor Charles Bruchot und einer jungen Frau, die der Bildunterschrift zufolge Bruchots Tochter Claudette van Ijssel war. Dem beiliegenden Artikel zufolge, war Klon #S-10 – Sasha Bréa – ebenso wie Claudette bei einem Laborunfall in Bruchots Labor ums Leben gekommen. Doignac war während des Unfalls zugegen und lebensgefährlich verletzt worden. Sequana suchte nach dem Datum des Eintrags. Der Artikel war aus dem Jahr 2097, Sasha war zu dem Zeitpunkt gerade 15 Jahre alt. Über den Hergang des Unfalls und den Inhalt der Labortests gab es keine Aussage, und auch ansonsten war nicht viel über Sasha zu finden, außer ein Erzeugungsdatum, von dem Sequana jedoch wusste, dass es durch Doignac gefälscht gewesen sein musste, um ihre Herkunft zu verschleiern.

Sequana schloss die Daten und schaltete das Terminal ab. Mit einem enttäuschten Seufzen warf sie einen Blick durch die staubige Luft zum einzigen Fenster des Raums. Die Sonne schien spätsommerlich warm vom Himmel. Als sie am Morgen Gallea und die Villa verlassen hatte, tropfte noch die Feuchtigkeit des nächtlichen Regens von den Blättern um sie herum. Hier in der Innenstadt von Paris, wo sich alte Bauten nahtlos aneinanderfügten, war es bereits trocken und warm. Sie spürte ihre Erschöpfung und den fehlenden Schlaf.

Sie hatten bis spät in die Nacht die Villa durchsucht und nichts gefunden, was ihnen weiterhelfen konnte. Die Säuberung der Villa nach dem Ende des Experiments war sehr gründlich gewesen. Keine Dokumente, keine Andenken oder persönlichen Gegenstände waren mehr zu finden. Nur eine dicke Metalltür im Keller, die mit dem Rahmen fest verschweißt war, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, doch Gallea hatte sie inständig gebeten, dass sie sich dort nicht länger aufhielten. Sequana hatte verstanden warum, denn hinter der Tür war der Ort, an dem die Probanden getötet und verbrannt worden waren. Es war ein eigenartiges Gefühl gewesen, das Sequana nicht einordnen konnte. Sie konnte sich an niemanden aus ihrer Kindheit erinnern, der in diesem Keller gestorben war. Trauer war etwas, dass sie persönlich betreffen sollte, vermutete sie, es musste also eine andere Art von Gefühl sein.

Doch jetzt hatte sie erfahren, dass die einzige Person aus der Zeit, an die sie Erinnerungen hatte, ebenfalls tot war. Auch wenn es erste einige Jahre später geschehen war. Sie dachte über den Artikel in Sashas Akte nach. Die einzige Spur, die sie hatte, war die von Charles Bruchot, da seine Tochter gestorben und Doignac verschwunden war. Der Professor hatte Bruchot als seinen Mentor bezeichnet, und zudem wusste er auch von ihr, da er sie, Ninive, Sasha und Cygne in sein Programm aufgenommen hatte. Er war ihre beste Spur. Allerdings war sie vermutlich nicht die einzige, die von Bruchots Verbindung zu Doignac wusste. Sie musste vorsichtig vorgehen und nichts übereilen, auch wenn ihr diese Art zu Handeln ganz und gar nicht lag.

Bevorsie das Personenregister verließ, besorgte sie sich noch die Adresse Bruchotsaus seiner Akte. Dabei kam ihr der Gedanke, auch nach Claudette van Ijssel zusuchen. Große Teile ihrer Akte waren unzugänglich ohne entsprechendeBerechtigung. Sie fand keine neue Spur, die sie mit Sasha in Verbindung bringenkonnte, abgesehen von dem Namen eines Journalisten, der sich um Aufklärung im FalleClaudette van Ijssel bemüht hatte und dabei mit ihrem Vater öffentlichaneinandergeraten war, wie ein weiterer Artikel einige Tage nach demLaborunfall zu berichten wusste. Sequana speicherte sich den Namen desJournalisten – Adrian Karim – auf ihrem Comdevice und suchte sich auch dessenAdresse heraus, bevor sie schließlich das städtische Archiv verließ.

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