Ninive erwartete ihn im Foyer. Sie hatte ihn bereits von der Wohnung aus kommen sehen, als er am Anleger war. Sequana und Bertrand Gallea waren einige Stunden zuvor bei ihnen angekommen, und sie wollte ihn abfangen, bevor er in der mittlerweile sehr betriebsamen Wohnung von Eva ankam. Breite hölzerne Fensterbänke waren vor den Fenstern des Foyers angebracht, und zwischen einigen Pflanzen und kleinen Skulpturen hatte sie sich einen Platz gesucht. Sie spürte die Wärme der Heizung unter ihr und die Kälte, die die Scheiben ausstrahlten, jedes Mal wenn sie mit dem Gesicht näher an die Fenster ging. Es war, als würde sie an der Grenze zwischen Sturm und Geborgenheit sitzen, ein Gefühl, dass ihrem momentanen Gemütszustand bestens entsprach.
Sie beobachtete Isaak, als er das letzte Stück durch den Park ging. Nasses Laub, das vom Wind aufgewirbelt worden war, hatte sich in seinem Regenmantel verfangen, und er trug eine Strickmütze auf dem Kopf und einen kleinen Karton in der Hand – beides hatte er noch nicht, als er am Morgen mit Eva aufgebrochen war.
Kalte, feuchte Luft wirbelte herein, als er die Tür zum Foyer öffnete. Ninive stand auf und ging zu ihm. Sie spürte den kalten Luftzug, der ihn umgab, an ihren Beinen. Eva hatte darauf bestanden, dass Ninive in ihrem Kleiderschrank nach passenden Sachen suchte, doch obwohl sie nur wenige Zentimeter größer war, passte keine der Hosen, was nicht zuletzt an Ninives deutlich muskulöseren Beinen lag. Also hatte sie angesichts aufkommender Frustration ob ihres Körperbaus zu Strumpfhose und Rock gegriffen. Eine ungewohnte Kleidung für sie, doch sie konnte nicht leugnen, dass es für einen Tag in der Wohnung und ohne körperliche Anstrengungen nicht die schlechteste Wahl war.
„Hi Ninive!" Isaak war sichtbar überrascht sie zu sehen.
„Ich bin hier um dich zu warnen, Isaak", sagte sie und blieb einen halben Meter vor ihm unschlüssig stehen. „Sequana und Bertrand sind da. Die Wohnung wird langsam etwas zu klein, um etwas Raum für sich zu haben ... zum Nachdenken zum Beispiel." Sie sah aus dem Fenster in den Regen.
„Sollten sie nicht zu viert kommen, oder erinnere ich mich falsch?"
„Es hat Tote gegeben", Ninive sah Isaak wieder an. „Auch Professor Doignac hat es nicht geschafft."
„Haben sie van Ijssel also tatsächlich in Amsterdam gefunden?", vermutete Isaak. Dann sah er ihren Blick. „Oh, entschuldige. Ich habe ganz vergessen, dass du Doignac nah standst."
Er zögerte nur eine Sekunde, dann nahm er sie in den Arm. Ninive lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Natürlich war sie traurig, als sie von Doignacs Tod erfahren hatte, doch nach allem, was sie erfahren hatte, hatte sie gemischte Gefühle gegenüber dem Professor. Was ihr wirklich gefehlt hatte war der Halt, den ihr Isaak gab, vermutlich ohne dass er es wusste. Auch deshalb hatte sie hier unten gewartet und ihn abgefangen, bevor die anderen ihn mit Fragen löcherten und mit ihren Informationen versorgten.
„Woher hast du die Mütze?", fragte sie, als er sie aus seiner Umarmung entließ. „Die hattest du heute Morgen noch nicht."
„Wirklich? Das interessiert dich mehr als das Paket?", er klopfte mit dem Daumen auf den kleinen Karton in seiner Hand.
„Es ist eine schöne Mütze", verteidigte sie sich. Isaak lachte, zog sich die Mütze vom Kopf und setzte sie ihr auf.
„Die habe ich von einem alten Freund, den ich besucht habe. Ich habe sie das letzte Mal bei ihm vergessen."
Etwas später saßen sie alle zusammen in Evas Wohnzimmer vor dem großen Comscreen. Eine Landkarte war aufgerufen.
„Coolridge meinte, dass es nur einen Ort gäbe, der ihm bekannt ist, an dem sich die Children of Chou länger aufgehalten haben", Isaak machte eine Geste und zoomte einen Bereich der Karte näher heran. „Hier befinden sich die ehemaligen Jylland-Kolonien. Der Versuch vor zwanzig Jahren, dauerhafte Besiedlung und Infrastruktur in der Nordseeregion hochzuziehen. Doch die große Sturmflut, die Amsterdam zerstört hat, setzte auch diesen Träumen ein Ende. Coolridge sagte, dass aber immer noch vereinzelte kleinere Siedlungen erhalten geblieben und hin und wieder Versorgungszüge nach dorthin unterwegs sind. Und über diesen Weg kamen Gerüchte nach Hamburg, dass am nördlichsten Punkt der Kolonien die Kimbrica-Station wieder ihre Forschungsarbeit aufgenommen haben soll."
„Das könnte aber auch nur eine Aktion des Militärs sein", entgegnete Sequana.
„Unwahrscheinlich", warf Eva ein, „das Militär spielt in Hamburg kaum eine Rolle. Alle Aktivitäten außerhalb Hamburgs sind von den Forschungsinstituten und Ministerien. Und Dr. Coolridge hat die besten Kontakte."
„Ich verstehe, dass du nicht schon wieder weiterziehen willst, Sequana", schaltete sich Gallea ein, „aber wenn zur selben Zeit, in der zwei Klone verschwunden sind, die wahrscheinlich von den Children of Chou entführt wurden", er sah zu Isaak, der bestätigend nickte, „an einem entlegenen Punkt eine Forschungsstation in Betrieb genommen wird, und wir zudem jetzt wissen, dass es Baupläne gibt, die sie vermutlich haben und für die sie ... Moment mal! Sequana, was hatte Cédric gesagt? Colonel Belnoir hat Forschungsergebnisse von Bruchot und van Ijssel gestohlen?"
„Das hat er gesagt", bestätigte Sequana.
„Und Belnoir war der Anführer der Mission, die mich in die Arme der Children of Chou treiben sollte", ergänzte Ninive.
Sie schüttelte sich leicht bei dem Gedanken, wo sie jetzt wäre, hätten Lilian und Seamus sie nicht aus dem Zug geholt. Die Unwissenheit, die sie in den Tagen in Camaret belastet hatte, erschien ihr jetzt nicht mehr so erdrückend wie das Wissen, das sie nun hatte. Andererseits hatten sich die Teile langsam so weit zusammengefügt, dass sie ein klareres Ziel vor Augen hatten, an das sie sich klammern konnten.
„Dann brechen wir also morgen wieder auf?", fragte Sequana in die Runde. Alle nickten. Ninive bewunderte sie. Nach den Erlebnissen der letzten Tage, die Gallea ihnen detailreich geschildert hatte, kam ihr ihre eigene Reise fast lächerlich bequem vor. Von den Kämpfen mit den Ossfhang und der Flucht aus den Korridoren abgesehen.
„Was mich noch interessieren würde", meldete sich Eva zu Wort, „was ist in der Box, Isaak?"
„Das hätte ich fast vergessen", Isaak griff nach dem kleinen Paket und öffnete es. Er holte einen Gegenstand hervor, der aus einem wenige Zentimeter großen Metallring bestand, an den lange, braune Bandagen geknüpft waren.
„Was ist das?", fragte Solvejg, die die ganze Zeit über schweigend im Schneidersitz auf dem Fußboden gesessen hatte.
„Das ist ein Prototyp eines Sangre-Konzentrators. Nathan ... Coolridge hat ebenfalls einen."
„So ein Ding, das die Children of Chou brauchen?", fragte Gallea.
„Nur in sehr viel kleiner. Es soll eine Art Mini-Korridor öffnen, zu einem Ort, den wir und Coolridge als toten Briefkasten nutzen können."
„Du meinst so eine Art Fernkommunikation?", Gallea war begeistert. „Welche Möglichkeiten das eröffnen würde ..."
„Ich würde nicht zu sehr darauf bauen, dass die Konzentration des Sangre die Lösung der Probleme unseres Planeten ist", entgegnete Isaak.
„Wie kommen wir zur Station?", fragte Ninive.
„Es fährt zurzeit kein Versorgungszug", antwortete Isaak, „aber Sequana und Bertrand sind doch mit einem Schienentruck gekommen. Ist der noch einsatzbereit?"
„Er hat ein paar Kratzer vom Kugelhagel", antwortete Sequana, „aber abgesehen davon können wir den benutzen. Ich hoffe nur, hier hat keiner Platzangst, es könnte mit sechs Leute nämlich etwas eng werden."
„Sechs Leute ...", Isaak zögerte und sah Eva an.
„Ich wusste, dass diese Frage kommen wird und habe mit Solvejg gesprochen. Wir werden mitkommen. Es ist auch ihre Geschichte, und mein ganzes Leben gilt der Erforschung des Sangre, wenn auch eigentlich aus einem psychologischen Blickwinkel, aber ... ich wäre keine gute Wissenschaftlerin, wenn ich mir diese Chance entgehen ließe, oder?"
„Wir können jeden Verbündeten gebrauchen", entgegnete Isaak.
„Aber ich übernehme keine Verantwortung für irgendeinen von euch!", stellte Sequana klar, „ich habe auf meiner Mission nicht besonders viel Erfolg damit gehabt, Mitreisende zu beschützen. Jeder sorgt für sich!"
„Ich wäre tot, ohne deinen Einsatz. Und Adrian hätte es nicht aus seinem Haus heraus geschafft." Gallea wandte sich an die Runde. „Aber keine Sorge, Sequana wird für uns alle sorgen, wenn es sein muss. Nur zugeben würde sie das nicht."
„Das war schon früher so", warf Ninive mit einem Grinsen in Sequanas Richtung ein.
„Haltdie Klappe, Musterschüler!", gab Sequana zurück. „Du wirst auf jeden FallBertrands Knarre nehmen. Der Gute kann damit leider überhaupt nicht umgehen."
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Solheim 01 | EUROPA
Science FictionWenn du vor der Wahl stehst die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere...