30 | BOIS DE BOULOGNE

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Sequana hatte die Villa nicht sofort gefunden. Der Wald um die Südspitze des Sees im Bois de Boulogne war verwildert und von dichten Büschen und Sträuchern durchzogen. Vor Jahrzehnten verlief dort eine stark befahrene Straße in die westlichen Vororte. Doch die war schon lange vor Sequanas Entstehung gesperrt und aufgerissen worden. Sequana wusste nicht warum, doch die südlichen zwei Drittel der großen Anlage waren jahrelang Sperrgebiet des Militärs gewesen, um schließlich ungenutzt zu verwildern. Und während im kleineren Nordteil des Parks ein großer Golfplatz und Park für die Eliten der Stadt eröffnet worden war, hatte man hier im Süden das Gefühl, draußen in der Wildnis zu sein.

Der Regen hatte unterdessen aufgehört, doch für Sequana machte das keinen großen Unterschied. Der Wald um sie herum war wie durchtränkt. Wan immer der Wind etwas auffrischte regnete es aus den gewölbten Blättern der hohen Baumkronen. Kniehohes Gras und Buschwerk hatten ihre Hosenbeine durchnässt und ließen den Jeansstoff schwer werden. Immerhin hielten ihre Stiefel dicht. Sie hatte die Villa schließlich ein Stück östlich des südlichen Seeufers gefunden. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe mitten im Wald. Ein einst asphaltierter Weg führte in einem leichten Bogen zum Haus hinauf. Witterung und Wurzelwerk hatten die Asphaltdecke jedoch über die Jahre gesprengt und zerrissen, hohes Gras wuchs dort, wo einst Autos fahren konnten. Immerhin machte es Sequana das Vorankommen dort einfacher als im Unterholz.

Das Gebäude wirkte kalt, verlassen und abschreckend. Efeu und wilder Wein stritten um die Vorherrschaft an der Fassade, die Fensterscheiben waren zugerankt und blind. Nur vereinzelt waren zugezogene Gardinen zu erkennen, deren Weiß auch im Sonnenlicht kein überzeugendes Bild abgegeben hätte. Sequana hatte vermutet, dass dies die Villa war, in der Doignac und Bertrand Gallea ihr Projekt gestartet hatten, dem sie ihre Existenz zu verdanken hatte. Doch ihre vergrabenen Erinnerungen kamen erst zum Vorschein, als der Weg seitwärts um das Gebäude verlief, und sie die hölzerne Veranda sah. Auch diese war verfallen. Die Bodenbretter waren morsch und teilweise eingebrochen, und den dicken, mit Schnitzereien verzierten Eckbalken, die das Vordach trugen, war nicht mehr über den Weg zu trauen.

Sequana fragte sich, ob ihre Informationen richtig waren. Sie hatte keine Zweifel, dass Gallea hier einmal gelebt hatte, doch davon, dass er nach dem Ende des Projekts vor über zwanzig Jahren noch einmal einen Fuß auf dieses Grundstück gesetzt hatte, fehlte jede Spur. Es schien überhaupt niemand mehr hier gewesen zu sein. Das hohe Gras, das die ganze Hügelkuppe um das Haus zu bedecken schien, war nicht niedergetrampelt, es gab keine Spuren auf dem matschigen Boden und auch ansonsten nicht das geringste Anzeichen, dass hier noch jemand lebte. Andererseits blieb ihr nicht viel anderes übrig als es in der Villa zu versuchen, wenn sie nicht zurück zu Doignacs Appartement wollte um dort dem Sec-Team in die Arme zu laufen.

Vorsichtig stieg sie die vier Holzstufen zur Vordertür hinauf. Sie hätte schwören können, dass die kleine Treppe sie nicht mehr tragen würde, doch sie war überraschend robust. Anstatt des Geräusches von splitterndem Holz war nur das dezente Seufzen zu vernehmen, als das Regenwasser unter ihren Sohlen aus den vollgesogenen, faserigen Stufen quoll. Die Tür ließ sich einfach aufdrücken. Spuren alter Bohrlöcher und dunkler Ränder auf Höhe der Klinke verrieten, dass das alte Gebäude einst mit modernen Sicherheitsschlössern ausgestattet worden war, die aber nach einigen Jahren wieder entfernt wurden. Die Tür schwang geräuschlos auf. Sequana nickte zufrieden. Wenn die Scharniere nicht vor Rost quietschten, musste sie jemand vor nicht allzu langer Zeit gefettet haben. Das Gebäude schien in einem besseren Zustand als sie zuerst angenommen hatte.

Sie spürte ihren Puls unerwartet beschleunigen. Ärgerlich atmete sie tief ein und aus, um die Herzfrequenz wieder zu senken. Es passierte ihr fast nie, dass sie in einer Situation der Anspannung eine störende Körperreaktion nicht unter Kontrolle brachte. Doch sie wusste bereits, dass es dieses Mal nicht an der Anspannung lag, nicht an der Gefahr entdeckt zu werden oder an der Sorge, das morsche Dach könnte ihr auf den Kopf fallen. Es waren die Erinnerungen an einen Teil ihres Lebens, den man ihr bewusst genommen hatte, die sie durcheinanderbrachten. Sie erkannte das Haus jetzt deutlich wieder. Die dunkle Eingangshalle der Villa war einst freundlich und hell gewesen. Die Kronen der Bäume hatten ihre flüchtigen Schatten in das Sonnenlicht gezeichnet, das durch die hohen Fenster auf den warmen Holzboden und die dicken Teppiche fiel.

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