05 | LILIAN

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Ninive hingegen hatte die Nacht alleine verbracht. Nachdem sie in ihr Abteil zurückgekehrt war, hatte sie endlich den dringend benötigten Schlaf gefunden. Doch die Nacht war kurz, und gegen sechs Uhr saß Ninive im Speisewagen und kämpfte mit ihrem Frühstück. Ihr war nicht nach essen zumute. Und eigentlich war ihr auch immer noch nicht nach Gesellschaft zumute, dennoch hatte sie sich dazu durchgerungen in den Speisewagen zu gehen. Irgendwann musste sie sich ohnehin unter ihren Mitreisenden blicken lassen. Und nun saß sie alleine an einem Tisch in einer Ecke des Wagens und drehte nachdenklich einen Apfel in ihrer Hand, ohne diesen zu essen.

„Pardon, darf ich?“ Die Frage riss sie aus ihren Gedanken, und erschrocken stellte Ninive fest, dass sie die Frau, die diese gestellt hatte, nicht hatte kommen sehen. Eine Nachlässigkeit, die sie ärgerte.

Ninive machte eine knappe Geste, doch die Frau hatte bereits ihr gegenüber Platz genommen und unsanft ihren übergroßen Kaffeebecher auf dem Tisch abgestellt, so dass einige Tropfen bis auf Ninives Tellerrand spritzten. Ninive sah langsam auf, warf einen nachdrücklichen Blick auf den verspritzten Kaffee und begutachtete dann ihre Gegenüber. Sie war eine zierliche Frau mit einem schmalen Gesicht und großen dunklen Augen, vor der ihr Kaffeebecher wie eine übergroße Schüssel wirkte, die sie in ihren schmalen, knochigen Fingern hielt. Die wilden, leicht gewellten dunkelbraunen Haare hatte sie an ihrem deutlich ausgeprägten Hinterkopf mit einem altmodisch geblümten, blauen Tuch nachlässig hochgebunden. Ihre Haut war deutlich dunkler als Ninives. Vermutlich eine Spanierin, nahm Ninive an.

„Ich bin Lilian“, stellte sich die Frau vor und ihr Mundwinkel zuckte knapp, als sie Ninives Blick begegnete, der sie etwas zu lange und eingehend gemustert hatte um nicht aufzufallen. Sie sprach den Namen eindeutig französisch aus.

„Ich hätte dich eher für eine Spanierin gehalten“, entgegnete Ninive ungelenk.

„Das höre ich nicht zum ersten Mal“, entgegnete Lilian und ignorierte großzügig Ninives wenig höflichen Gesprächseinstieg. Sie kramte einen eingeschweißten Keks aus der Bauchtasche ihres löchrigen Kapuzenpullovers hervor, riss die Folie auf und tunkte ihn mit etwas zu viel Schwung in den Kaffee. „Wie heißt du?“

„Oh, entschuldige“, murmelte Ninive und beäugte den Keks in Lilians Hand mit Argwohn. „Ich heiße Ninive Solheim und bin…“

„Ah, der Klon“, unterbrach Lilian abrupt und wirbelte den tropfenden, eingeweichten Keks in einer ausladenden aber unbestimmten Geste durch die Luft. „Ich habe davon gehört. Die haben dich echt gut zusammengebaut.“

„Äh … Danke … schätze ich.“ Sie beobachtete weiterhin den Keks, während nun Lilians neugieriger Blick auf ihr ruhte. Ihr fiel auf, dass die Hände ihrer Gesprächspartnerin immer wieder zuckten, als wäre sie nervös. „Eigentlich wollte ich sagen, dass ich als Agentin des Sangre-Instituts an dieser Mission teilnehme, aber du hast es sicher besser zusammengefasst.“

„Lass dich nicht dadurch irritieren“, Lilian hielt ihre Hand vor Ninive in die Luft, „ich habe eigentlich sehr ruhige Hände, aber wenn ich nachts zu wenig schlafe, brauche ich am Morgen meine Ration Kaffee, um meine Finger wieder unter Kontrolle zu bekommen.“

„Konntest du letzte Nacht auch nicht schlafen?“

„Ich war selbst schuld. Wenn ich anfange Klavier zu spielen, vergesse ich die Zeit.“

„Ach du warst das?“, Ninives Blick hellte sich auf, „ich habe dich gestern gehört?“

Ninive erzählte Lilian von der vergangenen Nacht und wie sie vor ihrer Abteiltür ihre Musik gehört hatte, bis die Erschütterung des Zuges sie schließlich unterbrach.

„Weißt du, was das gewesen ist?“, fragte Ninive beiläufig. Lilian zuckte mit den Achseln.

„Keine Ahnung, aber wenn der Zug erschüttert wird, dann muss etwas Ungewöhnliches passiert sein. Doch solange wir am Ziel ankommen …“ Sie deutete mit dem Kinn zum Fenster.

Draußen erstreckte sich im grauen Licht des bewölkten Morgens eine weite Bucht, an deren Ende bereits die hohen Türme und Flugaufbauten des Aéroport Camaret zu sehen waren. Doch was Ninive – wie auch viele der anderen Mitreisenden im Speisewagen – deutlich mehr faszinierte, war das Meer. Die meisten Menschen hatten in den letzten drei Jahrzehnten ihre angestammte Stadt nicht mehr verlassen, und die wenigen, die es taten, reisten meistens zwischen den Großstädten hin und her und bekamen die wilde Landschaft dazwischen und vor allem das Meer oder die Berge nie zu Gesicht.

Unter dem stürmisch-grauen Himmel war die See aufgepeitscht und trieb hohe Wellen in die geschützte Bucht. Gegenüber des Aéroport auf der anderen Seite der Bucht ragte eine felsige Landzunge weit in die Öffnung zum Meer hinein. Mit jeder größeren Welle verschwanden die Felsen in einem Vorhang aus Gischt. Ninive betrachtete das ferne Schauspiel der Naturgewalten, dann plötzlich verengte sie die Augen und legte die Stirn in Falten.

„Was ist?“, fragte Lilian von der Seite, die offenbar interessierter Ninive als das Meer beobachtet hatte.

„Ich … weiß nicht …“, gab Ninive zögernd zur Antwort, ich dachte, ich hätte etwas … gesehen.

„Das ist alles neu für dich, hm?“ Lilian warf ihrerseits einen Blick über die Bucht, schien aber wenig beeindruckt.

„Nein … ja, das ist neu für mich, aber das meine ich nicht“, entgegnete Ninive langsam. Sie spähte erneut zu den Felsen, als sich der nächste Gischtschleier legte. Ohne den Bick abzuwenden stand sie auf und ging zum Fenster. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Augen, sammelte alle Energie. Sie spürte, wie sich ihre Gliedmaßen taub anfühlten, wie sie das Blut in ihren Ohren rauschen und in ihren Schläfen pochen hörte, wie sie alles auf ihren Blick fokussierte. Der Zug schwankte leicht auf den Schienen. Ninive klammerte sich mit den Händen an die kleine Reling unterhalb des Fensters, um nicht einfach umzukippen. Ihr Gleichgewichtssinn entglitt ihr. Und dann riss sie die Augen auf und bestand nur noch aus ihren Augen.

Das Licht war gleißend und pulsierend, als ihr Blick vorwärts schnellte und die Umgebung scannte. Ein weiteres Schwanken des Zugs in einer langgezogenen Kurve und sie hätte beinahe ihren Fokus verloren. Doch dann erkannte sie die Muster in einem Meer aus Linien, die das Land zu beiden Seiten der Bucht formten. Sie fokussierte weiter auf die felsige Landzunge und fand dort schließlich, was sie gesucht hatte. Inmitten der tosenden Wellen und regnenden Gischt auf einem niedrigen Felsen stand jemand. Ein Mensch ganz offensichtlich, auch wenn Ninive keine Details erkennen konnte. Die Person machte mit ihren Armen langsame, kreisende Bewegungen, als richtete sie ihre Gesten an die anrauschenden Wellen. Doch dann hielt die Person plötzlich inne und richtete beide ausgestreckten Arme auf die gegenüberliegende Buchtseite. Ninive fokussierte sofort auf die Silhouette des Aéroport Camaret, der am oberen Ende eines steilen Küstenabschnitts aufragte. Etwas bewegte sich dort. Ninive versuchte scharf zu stellen.

Und dann gab es eine erneute Erschütterung des Zuges. Stärker als in der vorangegangenen Nacht. Lilian warf einen Blick auf die übrigen Mitreisenden im Speisewagen, die sich abrupt vom Anblick des Meeres losrissen. Stimmengewirr füllte sofort den Raum und Lilian stellte beunruhigt fest, dass der Zug dieses Mal an Fahrt verlor. Sie wandte sich wieder Ninive zu und sprang erschrocken auf. Die blonde Frau war zu Boden gefallen – vermutlich durch die Erschütterung – und lag dort in eigenartig verdrehter Haltung, die Glieder bewegungslos, schwer atmend und die Stirn auf den Boden des Speisewagens gepresst.

„Hey, Meds!“, rief Lilian in Richtung der anderen Mitreisenden, unter denen sie auch Mitglieder des Sanitätertrupps vermutete, „wir haben hier einen Notfall!“

Sie kniete sich neben Ninive und drehte sie behutsam auf den Rücken. Ihre Haut fühlte sich kühl und schweißnass an, ihre Finger waren kalkweiß und blutleer. Ninive stöhnte auf und ihre Augenlider flatterten, bevor sie sie einen Spalt aufmachte.

„Geht es dir gut?“ Lilian warf einen Blick zu den Mitreisenden, doch diese waren durch die Erschütterung des Zuges, der mittlerweile zum Stillstand gekommen war, so abgelenkt, dass keiner ihren Hilferuf gehört hatte.

„Leg mir etwas über die Augen, bitte“, Ninives Stimme klang schwerfällig. Lilian sah sich um und griff nach einer großen Stoffserviette, mit der sie Ninives Augen abdeckte. Diese atmete tief durch.

„Danke.“ Die Stimme war noch immer schwerfällig, doch klang sie nun etwas ruhiger. Lilian atmete auf.

„Kann ich noch etwas für dich tun?“

„Meine Arme … und Beine … sind wie eingeschlafen, ich …“ Ninive brach ab. Lilian wartete eine Sekunde ab, dann griff sie nach Ninives Arm und begann damit, das Gefühl und das Blut zurück in die Gliedmaßen zu massieren. Zumindest hoffte sie das.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt