„Verdammt, verdammt, verdammt", Gallea schlug mit der Faust gegen eine Küchenschublade. Das morsche Holz splitterte ohne großen Widerstand. „Sie haben uns gefunden!"
„Wer hat uns gefunden?", fragte Sequana und sprang vom Sofa auf.
„Bruchots Sec-Team, darauf könnte ich wetten." Auch Adrian stand auf, aber langsam und mühevoll. Er angelte nach seinen Krücken.
„Wie kommen wir hier weg?", Sequana sah sich um, „kommen sie von vorne, Bertrand? Ist die Veranda frei?"
„Selbst wenn wir hier raus kommen", warf Adrian ein, „wir werden nirgendwo hingehen können. Bruchot hat Einfluss."
„Er hat Recht, Sequana", Gallea lief durch den Raum und duckte sich neben der Verandatür an die Wand. „Meine Wohnung wird überwacht, das Institut ist Bruchots Wohnzimmer, deine Wohnung ist nach deinem Treffen mit Bruchot auch keine Option mehr. Und Magritte Parc ebensowenig."
„Wir finden schon irgendwo ein billiges Hotel in den Vororten", entgegnete Sequana, „aber erst mal müssen wir hier raus!" Sie griff nach ihrem Rucksack und holte die Taser Gun hervor. Es war keine wirkungsvolle Waffe gegen ein Sec-Team, aber besser als nichts.
„Und selbst wenn wir untertauchen können, was dann?" Adrian stakste auf seinen Krücken schwerfällig zur Verandatür, nachdem Gallea ihnen ein Zeichen gegeben hatte. „Das ist keine Sache, über die irgendwann Gras wächst."
„Das ist mir egal", erwiderte Sequana, „ich plane nicht, ein ruhiges Leben zu führen. Aber ich habe noch ein paar Spuren, denen ich nachgehen will, und da stehen momentan nur noch Bruchot und Clef van Ijssel. Letzterer darf sich auf einen Besuch freuen!"
„Clef van Ijssel ist in Amsterdam." Adrian nickte zu Gallea, der die Verandatür so leise wie möglich aufschob.
„Amsterdam ist zerstört, schon seit Jahren", wandte Gallea ein.
„Das weiß ich", Adrian prüfte mit einer Krücke die Belastbarkeit der Bodenbretter der Veranda, „aber Bruchot hat mir erzählt, dass er noch lebt und dort ist."
„Hört zu!", Gallea wechselte das Thema. „Wir gehen links die Veranda runter. Da stehen einige Büsche. Am Ende der Büsche ist ein Streifen Rasen, aber wenn wir Glück haben, sind die Secs noch nicht auf dieser Seite der Villa. Dann geht es ins Unterholz, immer den Hang runter. Unten, kurz vorm Seeufer steht ein kleiner Schuppen. Da drin ist ein Geländewagen. Wenn wir den erreichen und starten können, bevor die Secs auf den Schuppen aufmerksam werden, haben wir eine Chance. Und jetzt ... los!"
Sequana duckte sich an Adrian vorbei und übernahm die Führung. Den Taser schussbereit lief sie hinter den Büschen her bis zum Rasen. Es waren nur wenige Meter bis zum Waldrand, doch als Sequana zurücksah und feststellte, dass Adrian auf seinen Krücken trotz aller Anstrengung erst die Hälfte des Weges geschafft hatte, kamen ihr Zweifel. Linker Hand hinter einem kleinen Erker hörte sie das Rauschen eines Funkgeräts.
Sie deutete Adrian und Gallea, der den Journalisten jetzt stützte, an, dass sie auf ihr Zeichen zum Waldrand laufen sollten, dann schlich sie sich näher an den Vorsprung des Erkers heran. Ein Soldat des Sec-Teams stand dort und bewachte offenbar den Auffahrtsweg zur Villa. Er wandte ihr den Rücken zu. Sequana drehte sich um und sah, dass Bertrand und Adrian am Rasen angekommen waren. Sie warf noch einen Blick auf den Sec, dann gab sie den beiden das Zeichen.
Sie waren nur noch zwei Schritt vom Waldrand entfernt, als der Sec auf sie aufmerksam wurde. Sequana presste sich gegen die Hauswand hinter dem Erker und machte den Taser bereit. Der Sec drehte sich um und ging auf Gallea und Adrian zu, während er gleichzeitig seine Waffe bereit machte. Sequana nickte grimmig. Sie hatte gelernt, die Secs einzuschätzen, und wusste, dass sie anstatt ihr Team zu informieren immer zuerst die eigene Waffe zogen. Das verschaffte ihr die zusätzlichen Sekunden, die sie brauchte. Mit drei Schritten war sie hinter dem Sec und knurrte: „Halt!" Der Mann blieb stehen und drehte sich überrascht um. Noch bevor er seine Waffe in Position bringen konnte, feuerte Sequana ihm die Elektroden des Tasers in Gesicht – die einzige ungepanzerte Stelle. Der Sec schrie auf, sackte zusammen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Dabei ließ er sein Sturmgewehr fallen. Sequana hob es auf, trat ihm in die Seite, so dass er sich auf dem Boden krümmte und sie seinen Waffengurt erreichen konnte, aus dem sie einige Munitionspäckchen zog, bevor sie auf kürzestem Weg ins Unterholz stürzte.
Sie war noch keine fünfzig Meter weit gekommen, als über ihr am Waldrand der Rest des Sec-Teams auftauchte. Sequana sah schräg durch den Wald. Gallea und Adrian hatten es bis zum unteren Rand des Abhangs geschafft und waren nun nach rechts aus ihrem Sichtfeld verschwunden, und damit auch aus der Reichweite der Secs. Sie selbst lief einen leichten Bogen zur anderen Seite, um ihre Verfolger nicht in die Nähe des Schuppens zu bringen. Der Plan ging auf. Kurz darauf fielen Schusssalven, doch nur wenige Kugeln kamen ihr nahe. Sequana duckte sich und sprang über einen umgestürzten Baumstamm, hinter dem sie in Deckung ging. Der Uferweg war nun nur noch wenige Schritte entfernt von ihr, doch so lange Gallea und Adrian nicht mit dem Geländewagen kamen, war sie dort ungeschützt. Sie hoffte inständig, dass die beiden nicht auf die Idee kamen, im Schuppen auf sie zu warten.
Sie rollte sich seitwärts und brachte das Sturmgewehr über dem Baumstamm in Anschlag, dann feuerte sie einige Kugeln hangaufwärts. Das Geräusch durch Unterholz eilender schwerer Stiefel brach ab. Sie warf einen Blick auf die Reservemunition. Panzerbrechende Projektile, stellte sie anerkennend fest, na dann bleibt mal schön in Deckung. In einiger Entfernung hörte sie das Geräusch eines Motors. Na endlich!, dachte sie und brachte sich erneut in Schussstellung. Ein Stück links von ihr hörte sie das Unterholz knacken. Sie schwang das Sturmgewehr herum, doch es war zu spät. Einer der Secs hatte sich in einem Bogen an sie herangeschlichen. Immerhin sorgte seine Entdeckung dafür, dass er es eilig hatte, wieder in Deckung zu gehen. So verzog er die ansonsten tödliche Salve auf Sequana.
Sie spürte einen reißenden Schmerz im Oberschenkel, als sie aufsprang und zur Straße sprintete. Der Geländewagen mit Gallea am Steuer kam im richtigen Moment. Sie stürzte sich kopfüber auf die Ladefläche und duckte sich hinter die niedrige Brüstung, gerade als der Sec erneut auf sie feuerte.
„Duck dich!", rief Adrian. Sequana sah den Lauf eines Jagdgewehres, das aus dem Seitenfenster des Geländewagens ragte. Zwei Schüsse wurden abgegeben, und obwohl Adrian offenbar keine Ahnung hatte, wie man mit einer Waffe zielen musste, reichte das, um die Sec-Teams für die entscheidenden Sekunden aufzuhalten. Gallea trat aufs Gas und unter leichtem Schlingern sprang der Geländewagen nach vorne und raste über den Schotterweg am Seeufer entlang davon.
„Bist du verletzt?", fragte Adrian nach einer Weile. Gallea hatte den Wagen mittlerweile etwas verlangsamt. Das Wegesystem im Bois de Boulogne war so verzweigt, dass sie nicht mehr damit rechneten, dass ihnen das Sec-Team so schnell nochmal über den Weg laufen würde. Sequana schüttelte den Kopf. „Nicht schwer, nur ein Streifschuss am Oberschenkel. Ansonsten habe ich Glück gehabt. Bei euch alles okay?"
„Außer eines blauen Flecks, als ich mir den Gewehrkolben gegen die Brust gehauen habe, ist alles bestens", entgegnete Adrian. „Du hast mich jetzt zum zweiten Mal gerettet. Und das an einem Tag."
„Die Rechnung dafür stelle ich dir ein anderes Mal."
Sie brauchten noch eine knappe halbe Stunde, bis sie den Bois de Boulogne durchquert hatten und an einer ehemaligen Bahnwerkstatt ankamen. Gallea fuhr den Geländewagen auf den Hof und stellte ihn ab.
„Wollen wir nicht noch etwas weiter rausfahren?", fragte Adrian vorsichtig. „Es gibt noch einige Vorstädte weiter draußen."
„Wir sind hier lange genug sicher", entgegnete Gallea und stieg aus dem Wagen aus. „Zur Abwechslung kann ich auch mal hilfreich sein."
„Was meinst du?" Sequana prüfte den Verband an ihrem Bein. Sie hatte während der Fahrt das Hemd unter ihrer Jacke ausgezogen und in Streifen gerissen, so dass sie es als provisorischen Verband nutzen konnte.
„Das Institut hat einen kleinen Fuhrpark an Schienentrucks für die Forschungsteams. Einige von diesen wurden hier in dieser Werkstatt untergestellt, als sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Werkstatt ist zwar geschlossen, und nicht mehr alle Trucks sind im besten Zustand, aber ich bin mir sicher, wir finden noch einen, der uns bis nach Amsterdam bringt." Gallea half Adrian aus dem Wagen und holte die Krücken von der Ladefläche.
„Dann endet so also das Kapitel Paris für uns?" Sequana schwang sich auf den Boden und hängte sich das Sturmgewehr um.
„Sofern du es nicht alleine mit Bruchot aufnehmen willst", Gallea musterte ihr Bein kritisch, „bleibt Clef van Ijssel unsere beste Spur."
„Weil der ja auch total ungefährlich ist", witzelte Adrian schwer atmend, während er sich auf den Weg zu den Lokschuppen machte.
„Bessere Idee?", fragte Gallea grinsend.
„Nein", entgegnete Adrian, deshalb bin ich ja auch schon unterwegs zu diesen Trucks.
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Solheim 01 | EUROPA
Science FictionWenn du vor der Wahl stehst die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere...