41 | UNGEREIMTHEITEN

8 0 0
                                    

„Morgen Sonnenschein!" Die freundliche Begrüßung stand im Kontrast zum energischen Rütteln an ihrer Schulter. Ninive zog sich die dünne Bettdecke über den Kopf.

„Hey!", Lilian gab nicht auf und wuschelte ihr mit der Hand durch die Haare, „ich habe uns Frühstück besorgt."

„Dein Frühstück kenne ich", murrte Ninive ohne die Decke loszulassen, „schlechter Kaffee und widerliche Kekse, die darin langsam aufweichen."

„Bei dir hört sich das an, als wäre das was Schlechtes", Lilian klapperte mit etwas neben Ninives Kopf herum. „Aber ich habe das Beste geholt, was ich in der Messe finden konnte."

Ninive schlug die Decke zurück und machte die Augen auf. Lilians Versuch, sie von dem Gespräch der letzten Nacht abzulenken, war ebenso durchschaubar wie wirkungsvoll. Ninive fühlte sich zwar noch immer so, als habe ihr Isaak den Boden unter den Füßen weggezogen, doch an diesem Morgen fühlte es sich eher wie ein Zustand der Freiheit und Schwerelosigkeit an. Sie strampelte sich von der Decke frei, setzte sich abrupt auf und ertappte sich dabei, wie sie das anschließende Schwindelgefühl genoss.

„Wieso bist du eigentlich so widerlich gut gelaunt?", erkundigte sich Ninive und warf einen Blick auf das Frühstück, das Lilian organisiert hatte. An Bord lagerte offensichtlich Fracht, die auch die Verköstigung höherer Persönlichkeiten zugelassen hätte. Sie fragte sich, wer die Fracht geladen hatte und warum.

„Erstens bin ich immer gut gelaunt, wenn ich nicht gerade wütend bin, weil ich unter einer toten Ossfhang begraben werde. Zweitens muss es ja einer von uns sein. Und drittens habe ich in diesem Bett hier so gut geschlafen wie lange nicht mehr. Auch wenn ich mir die Bemerkung erlaube, dass du dich nicht gerade klein machst."

„Heute Nacht schlafe ich wieder in meinem Bett", entgegnete Ninive zerknirscht, doch das bevorstehende Frühstück heiterte sie direkt wieder auf. „Danke, Lilian."

Sie machten sich über das Frühstück her und schwiegen eine Weile. Ninive beobachtete Lilian amüsiert. Es war ihr anzusehen, dass sie ihr morgendliches Kaffeeritual vermisste. Lilian war so energiegeladen und ungeduldig, dass sie sich mit einem gemütlichen Frühstück nicht so recht anfreunden konnte.

„Ich habe über letzte Nacht nachgedacht", teilte Lilian schließlich mit. „Ich glaube, dass an Isaaks Geschichte einige Teile fehlen. Ich weiß nicht, ob er sie selbst nicht weiß oder einen Grund hat, nicht alles zu sagen – du weißt ja, dass ich ihm bedingungslos vertraue – aber einige Dinge sind sonderbar."

„Für mich machte das alles beängstigend viel Sinn", entgegnete Ninive, „so viele Fragen, die ich mir in meinem Leben nicht beantworten konnte, passten plötzlich in ein Bild. Ich denke auch, dass ich nicht alles weiß, aber vielleicht war er auch nur rücksichtsvoll mich nicht noch mehr zu verunsichern."

„Das ist der erste nette Satz, den du über ihn sagst", stellte Lilian fest.

„Ich bin ihm eigentlich dankbar, aber letzte Nacht ..."

„Ich weiß, ich habe es miterlebt", Lilian nickte, „und ich hatte vorher gedacht, ihr Klone könnt solche Gefühle gar nicht haben."

„Das ist eigentlich falsch. Klone haben diese Gefühle aufgrund ihrer genetischen Anlage sogar zu stark und unkontrollierbar. Erst die Neurohemmer dämmen es soweit ein, dass man uns fälschlicherweise für eine Art Autisten hält. Aber wenn Isaak Recht hat, dann habe ich mein ganzes Leben ohne Neurohemmer verbracht."

„Okay, aber trotzdem habe ich Ungereimtheiten gefunden."

„Dann schieß los!", stimmte Ninive zu.

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt