50 | AUS PARIS

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Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Es war dunkel und trotz der Wärme des in sie verschlungenen Körpers und der Reinheit des Moments verspürte sie den Drang aufzustehen und sich ihre Kleider wieder anzuziehen. Solvejg drehte sich unwillig zur Seite. Eva spürte, wie Solvejgs Bein zwischen ihren zurückgezogen wurde. Die Hand ihrer Begleiterin strich sanft über ihre Brüste, dann gab sie Eva frei. Bedauernd warf diese einen Blick auf Sovlejgs nackten Körper, der in der Dunkelheit nur als heller Schemen zu erkenne war. Eva stand auf und krabbelte aus dem Container, ihre Kleidung unter den Arm geklemmt. Es war ein unsinnig kompliziertes Unterfangen, sich im Dunkeln anzuziehen.

Draußen streckte sie sich und spürte ihre Muskeln. Sie entwirrte ihre Kleidung und schlüpfte gerade in ihre Unterwäsche, als wenige Meter vor ihr zwei Menschen aus dem Schatten einer kreuzenden Gasse zwischen den Containerstapeln traten. Eva stieß vor Schreck einen spitzen Schrei aus. Die beiden Gestalten vor ihr nahmen sofort Kampfhaltung ein und zückten etwas, das nach großen Pistolen aussah.

„Halt, wer ist da?", hörte sie die Stimme eines Mannes.

Die Stimme war bestimmt aber nicht aufgeregt. Eva hatte in diesem Moment zwar ganz andere Probleme, doch sie war es gewohnt, Menschen aufgrund ihrer Körpersprache, dem Ausdruck ihrer Stimme oder ihrer Mimik zu beurteilen. Und die Tatsache, dass ihr Gegenüber nicht panisch reagierte, beruhigte sie für einen kurzen Augenblick. Bis sie sich daran erinnerte, dass sie noch immer in Unterwäsche vor zwei bewaffneten Fremden stand.

„Was wollen Sie?", entgegnete Eva mit zitternder Stimme.

Die beiden Gestalten kamen näher, und Eva konnte sie jetzt besser erkennen. Der blonde Mann war in Begleitung einer Frau, die noch mehr nach Kämpferin oder Soldatin aussah, als er. Sie hatte die Waffe noch auf Eva gerichtet, während der Mann sich bereits entspannte und seine Pistole hatte sinken lassen.

„Ich glaube nicht, dass wir hier jemanden von Zervetts Leuten haben", teilte er seiner Begleiterin mit einem Grinsen mit.

„Warum nicht?", fragte diese. „Auch die Children of Chou wollen ihren Spaß während des Landgangs." Doch auch die Frau nahm die Waffe runter.

„Wer ist da noch drin?", fragte der Mann und deutete auf den Container.

„Meine Freundin", antwortete Eva und stellte fest, dass ihr das zu sagen Sicherheit gab. Eigenartig, dachte sie, dabei sollte es die Situation doch eigentlich nur noch peinlicher machen.

Sie hörte Geräusche im Inneren des Containers, und wenige Sekunden später tauchte Solvejg neben ihr auf. Eva fragte sich, wie sie es so schnell geschafft hatte, sich im Dunkeln des Containers vollständig anzuziehen.

„Ihr seid von einem der Schiffe!", begrüßte Solvejg die Fremden überschwänglich. „Ich wollte dir zeigen", sagte sie dann zu Eva gewandt, „dass sie keine Einbildung waren."

„Die Schiffe ..." Eva schluckte. Plötzlich wurde ihr klar, dass Solvejgs Plan gar nicht gewesen war, sie irgendwo im Dunkeln des Containerfriedhofs flachzulegen. Sie wollte ihr die Existenz der Schiffe beweisen. Solvejg hatte nicht die Initiative ergriffen, das alles war also von ihr ausgegangen.

„Das stimmt." Der Mann warf Solvejg einen misstrauischen Blick zu. „Woher weißt du das?"

„Weil sie auch ein Klon ist", antwortete die fremde Frau. Und an Solvejg gewandt: „Habe ich Recht?"

„Ich konnte euch kommen sehen, eure Ankunft, die Landung", erklärte Solvejg zustimmend.

„Moment mal", schaltete der Mann sich wieder ein. „Bevor wir angekommen sind muss noch ein weiteres Schiff gelandet sein. Weißt du, wo das runtergekommen ist?"

„Nein", Solvejg schüttelte den Kopf, „aber ich kann es finden."

„Halt, Sekunde!", fuhr Eva dazwischen. „Also erstens sollten wir uns vielleicht erst mal vorstellen, bevor wir nach irgendwelchen Schiffen suchen, und zweitens würde ich mich gerne wieder anziehen, sofern keiner etwas dagegen hat."

„Entschuldigung", murmelte der Mann und drehte sich um.

Die Frau machte keine Anstalten, es ihm gleich zu tun. Solvejg warf Eva ein Lächeln zu und half ihr mit dem Reißverschluss des Kleids. Die flüchtigen Berührungen versetzten Eva einen Stich. Sie dachte an den Sex mit Solvejg. Hatte sie es ebenso genossen? Verstand sie überhaupt die Besonderheit dieses Augenblicks? Oder hatte sie am Ende nur mitgespielt, um sie zu den Schiffen zu locken, die sie am Himmel gesehen hatte? Eva wollte mit ihr darüber sprechen, doch solange sie nicht alleine waren, musste sie ihre Fragen vorerst hinunterschlucken.

„Ich bin Eva Aden", begann sie schließlich, als sie den Mantel fest um sich zog. Ich bin Solvejgs Psychologin."

„Du bist auch ein Klon, der außerhalb des Instituts lebt?", fragte die Fremde.

„Aber nur dank Eva", entgegnete Solvejg. „Sie zeigt mir, wie die Dinge im Leben dort draußen so laufen."

„Ich könnte auch so eine Psychologin brauchen", entgegnete die Frau. „Ich bin Ninive Solheim, ein Klon. Ich ... wir kommen aus Paris. Das ist Isaak", sie deutete auf den Mann, der das als Zeichen nahm, sich wieder zu ihnen umzudrehen.

„Aus Paris?" Eva sah Solvejg aufgeregt an, dann wieder Ninive. „Solvejg ist auch in Paris geboren, bevor sie nach Hamburg kam."

„Ich glaube, wir sollten uns in Ruhe unterhalten. Aber nicht hier. Es ist kalt und der Sturm wird immer schlimmer", Isaak forderte sie mit einer ausladenden Geste auf, ihm zu folgen. „Wir haben unser Schiff nicht weit von hier. Dort ist es warm und hell. Außerdem ruhiger."

Ihnen zu folgen war bei weitem nicht das verrückteste, was sie an diesem Tag gemacht hatte, dachte Eva. Isaak und Ninive machten nicht den Eindruck, als würde Gefahr von ihnen ausgehen. Dazu kam, dass sie Solvejg ohnehin nicht davon hätte abbringen können, mit den beiden zu gehen. Und konnte es Zufall sein, dass ein Klon aus der Stadt hier auftauchte, aus der Solvejg einst gekommen war?

Isaak und Ninive führten sie durch das Labyrinth aus Containern. Je weiter sie sich von dem Zaun zur Industriestraße entfernten, desto mehr Container waren umgekippt, von Stürmen verschoben und von Rost zerfressen. Eva wusste, was das bedeutete: Sie waren auf dem Weg zu den äußeren Hafenbecken der Elbe. Wenn die Unwetterausläufer in den nächsten Tagen Hamburg erreichen würden, wäre dies hier kein sicherer Ort mehr. Doch es war zwar ungemütlich, aber es bestand noch keine akute Gefahr einer Überschwemmung, und auch der Sturm hatte noch nicht die Kraft, die großen Container zu bewegen, auch wenn sie immer wieder bedenklich ächzten.

Eva beschleunigte ihre Schritte und schloss zu Solvejg auf, die ihrerseits ein Stück hinter Isaak und Ninive zurückgefallen war.

„Hey ...", sagte sie.

„Hey ...", antwortete Solvejg.

„Ich habe nie angenommen, dass du dir die Schiffe nur eingebildet hast", sagte Eva, „ich konnte nur nicht verstehen, was du gesehen hast. Wie du es gesehen hast."

„Ich weiß", entgegnete Solvejg, „deshalb wollte ich, dass du sie siehst."

„Das ist okay", Eva seufzte, „aber ich hoffe, das ist nicht das einzige, was dir an diesem Abend wichtig ist."

„Da vorne ist es", unterbrach sie Isaak in diesem Moment und deutete quer über eine große Fläche, die wohl einst ein Parkplatz gewesen war. Am anderen Ende dieser Fläche stand ein großes, ovales Etwas auf einem Unterbau aus Triebwerken, das sich schwarz gegen den dunklen Nachthimmel abhob.

„Das Schiff!" Solvejg deutete aufgeregt in die Richtung des kaum zu übersehenden Monstrums. Eva betrachtete es ungläubig. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie dieses Schiff abheben konnte.

„Kommt!", drängte sie Isaak zur Eile. „Wenn ich mich nicht täusche, fängt es gerade an zu regnen."

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt