69 | GOÐAFOSS

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Sie hatten einige Stunden in einer Nische im Steilhang oberhalb des Wasserfalls gewartet. Die beiden großen Schiffe der Children of Chou standen wie Fremdkörper still und verlassen am Ufer des Skjálfandafljót. Der Fluss war einst einer der längsten der Insel gewesen, doch in den vergangenen Jahrzehnten war auch der Vatnajökull – einst der größte nicht-polare Gletscher Europas – so stark zurückgegangen, dass er den Fluss nicht mehr ausreichend speiste. Der Wasserfall, vor dem sie standen, war der Góðafoss, der ebenfalls nur noch ein Schatten seiner großen Vergangenheit war.

„Danke für diese Geschichtsstunde, Rasmus", sagte Ilyena murrend. Die Nische in der sie versteckt auf die Rückkehr der Children of Chou gewartet hatten, war gerade groß genug für die fünf um nebeneinander zu sitzen oder zu hocken. Keiner von ihnen hatte noch ausreichend Geduld, um länger dort auszuharren. „Gehen wir endlich los? Die Freaks kommen aus dem Wasserfall ganz offensichtlich nicht mehr zurück."

„Du hast Recht, Ilyena", Lilian stand auf. „Folgen wir ihnen. Ich hoffe, ihr könnt alle schwimmen."

„Was denn?", protestierte Ilyena. „Ich dachte, wir plündern ihre Schiffe!"

„Keine Zeit dazu. Wenn die tatsächlich nicht mehr zurück kommen, dann haben sie bereits einen großen Vorsprung."

„Aber", begann Seamus und folgte Lilian und Ilyena einen schmalen Pfad entlang, „wir könnten dennoch einen Blick in die Laderäume werfen, ob wir für uns nicht auch ein Hoverboard finden."

Sie stiegen hinab ins Flusstal und inspizierten die Schiffe der Children of Chou, doch es war kein Hoverboard mehr an Bord der Schiffe. Allerdings fanden sie wasserdichte Rucksäcke, die sie gegen ihre eigenen austauschten und ihr Gepäck und die Waffen darin verstauten. Das Wasser des Beckens unterhalb des Goðafoss war empfindlich kalt. Fluchend wateten sie hinein und schwammen dann auf den mehr als zehn Meter hohen Wasserfall zu.

Die einzige, die sich nicht über die Temperaturen beschwerte, war Ilyena. Sie schien durch das Wasser zu gleiten ohne von der Kälte etwas zu spüren. Gleichzeitig machte sie nur minimale Bewegung war aber mit Abstand die schnellste Schwimmerin von ihnen. Sie trieb bereits in der Mitte des Gewässers und wartete auf die übrigen. Nach einem tiefen Atemzug tauchte sie ab unter die Oberfläche und erschien ein gutes Stück näher am Wasserfall wieder.

„Wurde die im Wasser geboren?", fragte Lumière mit zusammengebissenen Zähnen.

„Das weiß ich nicht, ich war nicht dabei", entgegnete Seamus grimmig, der neben ihm schwamm und hoffte, dass die Taubheit in seinen Händen und Füßen nicht seine ganzen Gliedmaßen ergriff, bevor sie das Innere des Wasserfalls erreichten. „Sie ist eine verdammte Hexe."

„Was bedeutet das?" Lumière sah ihn verwirrt an.

„Sie ist ein Klon, aber nicht aus einem Institutsprogramm. Das bedeutet das."

„Sie stammt aus einer Sekte?"

„Wenn man das so nennen will. Ihre Eltern sind beim Schwarzen Turm."

„Ach wirklich?" Lumière sah überrascht von Seamus zu Ilyena, die nun den Wasserfall schon fast erreicht hatte und in der Gischt des fallenden Wassers zu verschwinden drohte.

„Ich weiß nicht, ob sie mit denen noch etwas gemein hat, aber ursprünglich war sie auch ein Mitglied von ihnen. Wieso, ist das wichtig?"

„Nein, nicht wichtig. Ich habe nur in Paris einige flüchtige Kontakte mit dem Schwarzen Turm gehabt. Sie gelten als Terroristen, aber sie kamen mir eher wie politische Separatisten mit nicht ganz falschen Zielen vor."

„Sie sind sowas wie wir, nur größer und träger. Mittlerweile."

„Träger?"

„Naja, man muss es so sehen ... wir sind hier auf der Spur der Children of Chou, der Schwarze Turm ist es nicht."

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt