53 | TRANSKONTINENTAL

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Rasmus kam es so vor, als würde er zum ersten Mal seit Tagen aus einem bösen Traum erwachen. So sehr ihn die anderen seit ihrem Abflug aus Camaret auch als Teil des Teams akzeptiert hatten, so sehr merkte er, dass er nicht wie sie war. Ihm fehlte das routiniert chaotische Leben, das er in der Stadt geführt hatte. Die Verbitterung über die Gesellschaft und der Weltschmerz ließen sich wesentlich leichter leben, wenn man morgens um die Ecke den ersten heißen Kaffee aus einem Pappbecher schlürfte und abends mit einigen Studenten ein Feierabendbier als Vorbereitung auf den Abend trank, den er in der Regel in einer Cocktailbar verbrachte und seinem Compad die nächsten Absätze eines aktuellen Essays diktierte. Wenn er nicht gerade einen Abend mit Blind Date hatte. Doch davon hatte er für die nächste Zeit genug. Er würde wieder dazu übergehen sich die Mühe zu machen und Frauen auf die charmante Tour in Bars aufzureißen. Wenn er denn überhaupt nochmal in ein solches Leben zurückkehren würde. Paris war weit, wenn auch nicht unmöglich zu erreichen, und Hamburg – das ihn aufgrund seines pragmatischen Umgangs mit Fortschritt und Wissenschaft schon immer fasziniert hatte – war groß und unbekannt. Und – sofern es die aktuelle Wetterlage betraf – ungemütlich.

„Wie ist Paris so?", fragte Eva, als könne sie seine Gedanken lesen. Sie saßen in einem großen Sofa in einem zum Hauptgang nahe des Atriums offenen Raum, der als Beobachtungsdeck fungierte. Die großen metallenen Läden, die sie während des Flugs vorsichtshalber geschlossen hatten, waren zurückgezogen und durch eine große Scheibe aus dickem Glas sahen sie hinter dem dunklen Hafenumland die Lichter der Hamburger Skyline.

„Anders. Ich kenne Hamburg leider nur aus Artikeln, aber alleine dieser Ausblick verrät, dass Paris anders ist. Wir waren vor Jahrhunderten die größte Stadt und kulturelles Zentrum der Welt. Aber davon sind wir weit entfernt. Natürlich auch, weil es kaum noch Kontakt zu anderen Städten gibt."

„Das ist ein trauriger Gedanke, oder?", entgegnete Eva. „Ich vermisse nichts hier in Hamburg, ich passe hierher. Mein Beruf bezieht sich auf die Menschen in dieser Stadt, und davon gibt es wirklich genug. Und dennoch, wenn ich darüber nachdenke, wie die Welt damals gewesen sein muss, dann hinterlässt das so ein Gefühl von ..."

„... Fernweh?"

„Ich glaube, Wehmut beschreibt es besser."

„Ich verstehe, was du meinst." Rasmus widerstand dem Drang einige erklärende Gesten zu machen, wie er sie bei seinen Vorträgen für gewöhnlich machte. „Aber so abstrakt ist das gar nicht. Als wir Kinder waren gab es noch ganz normalen innereuropäischen Handel und Kontakt zwischen den Städten. Und unsere Eltern konnten noch davon erzählen, dass sie in ihrer Kindheit andere Kontinente besucht haben. Das alles ist gar nicht so weit weg."

„Meine Großeltern kamen aus anderen Städten. Die Familie meines Vaters ist aus Boston nach Hamburg übergesiedelt nach den New England-Fluten. Und meine Mutter ist sogar noch in Nairobi geboren. Sie ist in einer Stadt in Paris ... in Frankreich", Eva sprach das Wort ungelenk aus, „zur Schule gegangen."

„Welche Stadt war das?", fragte Rasmus begeistert darüber, jemanden mit einer transkontinentalen Geschichte vor sich zu haben.

„Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Die Stadt ist heute zerstört, sagt meine Mutter. Sie muss irgendwo südlich von Paris gelegen haben, in einer bergigen Gegend. Es gab dort Weinberge. Den Wein vermisst man hier in Hamburg im Übrigen sehr."

„Wie ich sagte, es ist nicht so abstrakt, wie wir denken. Die Importgüter aus dem Handel gibt es noch, aber sie gehen zur Neige und werden teuer."

Rasmus sah auf, als Schritte auf dem Gang zu hören waren. Es war Ninive, ein Bier in der Hand und mit einem verwirrten Gesichtsausdruck.

„Habt ihr Isaak gesehen?", fragte sie.

„Der wollte nach Lumière sehen", entgegnete Rasmus, „das war aber schon vor längerer Zeit. Keine Ahnung, wo sich der jetzt rumtreibt."

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt