Eva fand ihre Ruhe in dem alten Sessel in der Küche später am Nachmittag. Solvejg war im Wohnzimmer und ging ihre täglichen Lektionen des Bildungsprogramms für Somatoniker durch. Der Nebel hatte sich gelichtet, und auch wenn der Regen immer noch nicht daran dachte aufzuhören, so konnte sie doch weit über das umliegende Gebiet des ehemaligen Hafens blicken. Sie sah die hohen, in sich gedrehten Türme des Kommunikationsministeriums hinter dem kleinen Grasbrook aufragen, eines der vielen futuristischen Gebäude, die in den letzten drei Jahrzehnten in Hamburg entstanden waren. Vor allem das alte Hafengebiet und die Bereiche südlich der Elbe waren überfüllt mit diesen Gebäuden, während die alte Innenstadt an der Binnenalster noch ihr ursprüngliches Gesicht bewahrt hatte. Eva hätte gerne dort gewohnt, doch es gab praktisch nie freie Wohnungen oder Häuser, und wenn doch mal etwas frei wurde, überstieg die Summe, die bei der Versteigerung erreicht wurde, ihre Gehaltsstufe bei Weitem.
Sie löste ihren Blick von den Ministeriumstürmen und blickte wieder auf ihr Compad. Zusammen mit Solvejgs Hab und Gut waren ihr die Aktenfreigaben geliefert worden, da sie nun auch zu ihrem gesetzlichen Vormund geworden war, zumindest für die Dauer, die ihre Patientin bei ihr wohnte. Das gab Eva einige Möglichkeiten Dinge über Solvejg herauszufinden, die ihr bislang verschlossen geblieben waren. Sie wusste, dass Solvejg ein Journal führte, von dem sie ihr hin und wieder erzählt hatte, doch auch wenn die Patientin ihrer Ärztin die Berechtigung geben wollte, so verhinderte die Bürokratie der Berechtigungsstufen Eva den Zugriff. Bis jetzt.
Das Journal war psychologisch nicht uninteressant, hielt jedoch wenig Neues für Eva bereit. Allerdings fand sie in den Bereichen der Akte, die ihr bislang unzugänglich waren, einige Hinweise auf Solvejgs Herkunft, die sie weitaus mehr interessierten. Weniger als Ärztin, sondern vielmehr aus persönlicher Neugier. Die Informationen waren nicht sehr aufschlussreich, aber sie boten einige Anhaltspunkte für eine weitere Recherche. Sie wusste bereits, dass Solvejg aus Paris stammte, doch die genauen Umstände kannte sie bislang nicht. Nun fand sie in der Akte einen Hinweis auf einen Mittelsmann in Amsterdam, einen gewissen Clef van Ijssel, der den Transfer Solvejgs von Paris nach Hamburg arrangiert hatte. Eva markierte den Namen für eine weitere Recherche. Das Problem war, dass Amsterdam nach der letzten verheerenden Flut vor fast zwanzig Jahren nicht mehr wieder aufgebaut worden war. Allerdings waren viele Überlebende nach Hamburg geflohen. Mit etwas Glück ließ sich der Name in den Registern der Stadt nachverfolgen.
Clef van Ijssel stand in engem geschäftlichen Kontakt sowohl zu Pariser Unternehmern als auch zu einigen Hamburger Ministern. Eine davon war Henna Sandkoog, Ministerin außer Dienst für Kommunikation und Informationshandel, die auch in Solvejgs Akte auftauchte. Sie hatte die Einfuhr von Klonen offiziell bewilligt. Und offenbar nicht nur in Solvejgs Fall. Zusammen mit ihr war noch ein weiterer Klon nach Hamburg gekommen. Eine Kennnummer war nicht vermerkt, aber der Name Siam.
Eva legte das Pad zur Seite und stand aus dem Sessel auf. Sie warf einen Blick in den Regen, dann ging sie ins Wohnzimmer. Solvejg lag dort bäuchlings auf dem Sofa, ihre Füße wiegten langsam in der Luft hin und her, während sie interessiert in ihr eigenes Pad blickte. Eva ertappte sich erneut dabei, wie sie ihre Patientin stumm betrachtete. Sie waren nach dem Frühstück einkaufen gegangen. Solvejg hatte nur sehr wenige eigene Kleidungsstücke, und viele davon passten ihr nicht mehr. Während der letzten zwei Jahre war sie fast ununterbrochen in Kliniken gewesen und in Krankenhauskleidung herumgelaufen. Eva war erstaunt gewesen, wie sicher sie sich dennoch im Einkaufszentrum bewegte, einem Ort, an dem die Menge an Menschen nur noch übertroffen wurde von der Vielzahl an audiovisuellen Reizen – Werbespots, Leuchtschriften, Informationstafeln, Hinweisschildern, Hintergrundmusik. Dennoch hatte es sie einige Mühe gekostet, Solvejg den Sinn neuer Kleidung zu erklären. Als sie das jedoch verstanden hatte, zeigte sie sich kooperativ. Es war Eva so vorgekommen, als kleide sie eine Schaufensterpuppe ein. Solvejg schien keinen eigenen Modegeschmack zu haben und zog bereitwillig das an, was Eva ihr gab. Sie hatte schnell Freude daran gefunden, und erneut stellte sie sich die Frage, ob es eher ein mütterliches Gefühl war, das sie Solvejg entgegenbrachte, oder ob sie nicht in Wahrheit mehr für sie empfand.
„Ich bin gleich fertig", teilte ihr Solvejg unvermittelt mit und zupfte sich den weiten Ausschnitt ihres Strickpullovers zurecht, der ihr immer wieder über die Schulter rutschte. Eva hatte sich bereits gefragt, ob ihre Anwesenheit bemerkt worden war.
„Lass dir Zeit, wenn du sie brauchst", entgegnete sie und deutete mit dem Daumen zurück zur Küche. „Ich mache uns etwas Warmes zu trinken gegen dieses Schietwetter."
Sie sah Solvejg leicht nicken, ohne den Blick vom Compad abzuwenden, dann verschwand sie erneut in der Küche.
Als sie wenige Minuten später mit zwei großen Tassen heißer Schokolade zurück ins Wohnzimmer kam, stand Solvejg vor dem großen Fenster und spähte in den Regen hinaus. Es dämmerte bereits wieder, und das Ambientlight tauchte den Holzboden in einen warmen Schein. Eva betrachtete Solvejgs Gesichtszüge, die sich in der Scheibe spiegelten. Ihr Blick wanderte flüchtig an ihrer Patientin hinab. Sie hatte ihr die richtigen Kleider gekauft, stellte sie zufrieden fest. Der lange dunkle Rock saß perfekt an ihren Hüften und fiel bis kurz über die nackten Knöchel oberhalb der alten Wollsocken, die sie aus ihrem eigenen Kleiderschrank gefischt hatte. Der weite Pullover war für sie nicht zu warm und bedeckte zudem ihren Oberkörper nur soweit, dass ...
Eva schüttelte den Gedanken ab. Sie war ihre Patientin, und das war nur eines der Probleme, die ihr im Weg stehen würden, wenn sie diesen Gedanken nachgab. Sie setzte sich auf das Sofa und stellte die beiden Tassen auf dem kleinen Beistelltisch ab.
„Was beobachtest du?", fragte sie Solvejg interessiert.
„Den Himmel", gab sie als Antwort.
„Außer Grau gibt es dort heute wohl nicht viel zu sehen", Eva lächelte leicht, als sie von der Seite Solvejgs Stirnrunzeln betrachtete.
„Wildgänse. Es ist die Jahreszeit. Wildgänse fliegen jetzt nach Afrika."
„Kannst du sie sehen?", Eva warf selbst einen Blick hinaus zum Himmel, doch sie erkannte dort nichts.
„Ja. Wenn ich meine Energie konzentriere, dann sehe ich sie. Die Gänse und die Schiffe."
„Ha! Jetzt hab ich dich!", Eva lachte ausgelassen. „Die Gänse hätte ich dir abgenommen, aber Schiffe? Keine Chance."
Solvejg wandte sich vom Fenster ab und setzte sich neben Eva auf das Sofa. Sie nahm ihre Tasse und trank vorsichtig einen kleinen Schluck, doch das Getränk war ihr offensichtlich noch zu heiß.
„Warum haben die Schiffe keine Chance?", fragte Solvejg.
„Ich meine damit, dass ich dir nicht glaube, dass du Schiffe gesehen hast. Es gibt Tage, da fahren Schiffe auf der Elbe – unten auf dem Wasser. Aber nicht im Himmel."
„Aha", Solvejg war offensichtlich wenig überzeugt, sagte aber nichts weiter.
„Solvejg? Kennst du jemanden namens Siam?", fragte Eva schließlich.
„Siam?", Solvejg schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich glaube, der Professor kennt Siam."
„Professor ... Coolridge?", fragte Eva nach.
„Ja. Er hat mir erzählt, Siam war meine Schwester."
„Deine Schwester?", entgegnete Eva und bemühte sich, nicht zu aufgeregt zu klingen. „Ich wusste nicht, dass du ... dass ihr ..."
„Ja, seine Geschichte macht keinen Sinn", stimmte Solvejg zu, „aber er meinte das metaphorisch. Ich weiß nicht, was das bedeutet."
„Hast du ihn nie danach gefragt?"
„Nein", Solvejg rutschte ein Stück auf dem Sofa zur Seite, dann legte sie sich seitwärts hin, den Kopf in Evas Schoß, und zog die Beine an. „Gespräche mit dem Professor waren leider ineffizient."
Eva nickte und sah aus dem Fenster. Sie spürte das Gewicht von Solvejgs Kopf in ihrem Schoß, die leichte Bewegung ihrer Schultern an ihrem Bein. Angst beschlich sie, Angst vor ihren Gefühlen. Doch während sie auf dem Sofa saß und gedankenverloren in den Himmel blickte, war das einzige, was sie fühlte, dass sie nicht alleine war. Ein wärmender Gedanke im Angesicht des trostlosen Regengrau.
„Ichhoffe, die Schiffe haben doch eine Chance", murmelte Solvejg leise. Evaunterdrückte ein Lachen und griff nach ihrer Tasse. Und dann sah sie dieWildgänse.
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Solheim 01 | EUROPA
Fiksi IlmiahWenn du vor der Wahl stehst die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere...