72 | EPILOG

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„Wir waren auf einer Reise. Ich hatte gedacht, es ginge um das Ziel, aber das stimmte nicht. Als wir zu fünft dort in der Höhle um das Licht herum standen, da dachte ich, jetzt käme der Schritt in die Korridore. Der Schritt der alles verändern würde. Ich lag falsch. Die Korridore hatten wir in dem Moment betreten, als wir auf Island abstürzten. Der gigantische Sturmwirbel war kein natürliches Phänomen des Sangre, es war das Ergebnis des Konzentrators, den Zervett nach den Projektaufzeichnungen, die er seinen Handlanger Belnoir von Bruchot hatte stehlen lassen, bauen ließ. Er hatte eine ganze Insel, ein ganzes Land in die Korridore versetzt, der Wahnsinnige!

Doch der erste Schritt, der mich dorthin führte, wo ich jetzt bin, war sehr viel früher. Als ich in den Pyrenäen aufwuchs, stieg ich Tag für Tag auf einen Felsen am Rande der Hochebene, auf der Val-de-Crépuscule lag, der Ort, den Maman nach dem Verschwinden meines Vaters gegen den Willen der Regierung aufgebaut hatte. Mit fünf Jahren wartete ich dort zum ersten Mal den ganzen Abend, bis Maman mich fand und mich ins Bett steckte. Ich wusste damals nicht Bescheid über die Geschichte unserer Welt, über das Sangre und die Menschen, die sich darum stritten. Ich wusste nur, dass ich nicht glauben wollte, dass Papa gestorben ist. Er war zu schlau für die Natur. Das habe ich tatsächlich geglaubt ... ich war fünf ... und später habe ich es noch immer gehofft. Ich weiß nicht, woher ich meine Zuversicht nahm, aber so ist das als Kind. Man beharrt auf dem, was unmöglich scheint.

Als ich Isaak traf, habe ich gelernt, dass die Realität viel härter ist, als man sich eingestehen will. Und dass man dennoch Hoffnung finden kann. Hoffnung, die einen bis ins Mark erschüttert und von Grund auf zerstören kann. Die aber auch aufbaut und Halt gibt, wenn man bereit ist, alles zu geben, was man hat. Er hat am Anfang des Sangres die einzige Liebe verloren, die er bis dahin kannte. Er hat nicht nur eine Heimat verloren, sondern eine ganze Welt. Seine Freiheit ebenso wie jeden Menschen, den er kannte. Und nach seiner Rückkehr aus dem Kälteschlaf klammerte er sich an den Rest seiner seit fast einhundert Jahren nicht mehr lebenden Freundin. Er suchte sie in den versprengten Genen und den Menschen, die daraus entstanden. Er zerstörte sich selbst bis in die Tiefe seines Selbst. Ich habe gesehen, wie er sich aufgab, mit der Welt abschloss, die er nie wieder erreichen würde. Und als er sich von all dem losgesagt hatte, blieb nichts übrig als die Hoffnung, mit dem Rest seiner Existenz einer höheren Sache zu dienen. Und das tat er."

„Glaubst du, er würde wollen, dass sich alles wieder zusammenfügt?"

„Ja." Lilian zögerte, bevor sie dann aber mit fester Stimme bekräftigte: „Ja, das würde er. Ich bin mir nicht sicher, ob es gut für ihn ist. Ich bin mir auch nicht sicher, ob er einen weiteren Bruch übersteht, aber er lebt für dieses Ende. Er würde es wollen."

„Gibt es nicht noch etwas, das du hinzufügen willst? Unsere Geschichte ist nicht zu Ende erzählt."

„Nein, das ist sie nicht. Aber ich bin schwach, Rasmus. Wir sollten es beenden. Ich erzähle euch später alles Weitere."

Die dritte Person, die in diesem Moment anwesend war, sah auf das Blut auf ihren Handschuhen und nahm den Mundschutz ab. Es war – soweit sie es gehört hatte – ein nicht ganz zufriedenstellendes Ende. Natürlich, es endete mit der Rettung von Sasha Bréa. Das war gut. Sie mochte, wie sich die Dinge zusammenfügten. Aber der Ursprung der Sangre-Energie war ebenso wenig geklärt, wie der Verbleib der Children of Chou.

„Etwas verstehe ich nicht ganz", sagte die Frau, die sich nun die blutigen Handschuhe abstreifte. „Was hat Isaak dazu bewegt, den Korridoren zu folgen und nicht mit euch nach Island zu fliegen?"

„Darüber hat jeder seine eigene Meinung", sagte Rasmus und warf einen Blick auf die dahingleitenden Quallen, in denen sich das Licht des Nachmittags brach. „Wir haben das immer wieder besprochen in den Jahren danach. Ich glaube, es war wegen Ninive. Nicht wegen Nina. Es ging um Ninive. Er hat gesehen, dass sie ihn brauchte um ihre eigene Welt wieder auf sichere Füße zu stellen."

„So einfach ist das nicht", widersprach Lilian. „Er ist gegangen, weil er Ninives Anziehungskraft nicht widerstehen konnte und Angst hatte, das könne seine obsessive Suche nach Nina wieder ans Tageslicht zerren. Das wäre für die Mission zu gefährlich gewesen."

„Aber spielt seine Motivation am Ende eine wirkliche Rolle?", fragte Rasmus.

„Nein",die Frau, die nun die benutzten Nadeln in einem kleinen Plastikbehälterverstaute und diesen geräuschvoll in den Mülleimer fallen ließ, sah zu Rasmusauf. „Aber die Vorstellung, er hätte diese Entscheidung wegen Ninive getroffen,gibt mir ein Happy End. Fürs erste. Ich mache uns jetzt einen Tee und danngehen wir auf die Dachterrasse und ihr erzählt mir den Rest."

Solheim 01 | EUROPAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt