Kapitel 2

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Anders als die letzten Male, wo ich hier im Speisesaal des kanadischen Königsschlosses war, standen dieses Mal keine Speisen auf dem Tisch. Stattdessen lagen dort ein Haufen Bücher, Akten und anderer Schriftkram herum. Die meisten Leute hier im Raum, hatten ein Schriftstück vor der Nase, welches durchgelesen wurde.
Genau vor mir lag die Akte, welche Azura, Sue, Marlon und ich gestern aus dem Polizeiarchiv geklaut hatten. Neugierig blätterte ich sie durch. Bei jeder Seite untersuchte ich sie aufs genauste. Irgendwo musste doch eine geheime Botschaft sein. Doch bisher hatte ich noch nichts gefunden.
Ich blätterte mal wieder um. Aufs genauste untersuchte ich auch diese Seite. Es gab ein paar handschriftliche Worte neben dem abgedruckten Text, doch es handelte sich wie immer um irgendwelche Nachträge zu den Ermittlungen. Oft waren es irgendwelche Randnotizen, die man später wohl noch hinzugefügt hatte. Teilweise konkretisierten sie doch noch etwas, teilweise verwiesen sie auf spätere Seiten, doch immer hingen sie eindeutig mit den Brandermittlungen zusammen. Auch auf dieser Seite – eine von dem nicht wirklich aussagekräftigen Brandgutachten – handelte es sich wieder um solche Notizen. An einer Stelle, bei der es um den Blitzeinschlag von innen in einem Raum ging, die der Gutachter nicht erklären konnte, waren ein paar Fragezeichen und ein Name daneben geschrieben worden.
„Hast du herausgefunden, wer das ist?", fragte ich an Sirius gewandt, welcher mal wieder die Akten von Waisenhäusern durchging, um dort vielleicht Natasha zu finden. Es war eigentlich die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
„Ein weiterer Gutachter, der ein weiteres Brandgutachten geschrieben hat. Man hat gehofft, eine zweite Meinung könnte dabei helfen, das Rätsel um den Blitzeinschlag zu lösen. Hat sie nicht", erklärte mein Vater.
Ich gab ein leises Grummeln von mir. Zwar hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, es wäre so einfach, Natashas Botschaft zu finden, doch mir war es lieber eine offensichtliche Spur zu finden als gar keine. Da ich mittlerweile den größten Teil der Akte durch hatte, war leider nicht mehr viel über, um die Botschaft zu finden.
Ich nahm mir die nächste Seite vor. Auf der oberen Hälfte des Blattes war noch das restliche Brandgutachten zu lesen, unten war alles leer. Ausnahmsweise gab es auch keine Randnotizen. Auch diese Seite untersuchte ich aufs genauste. Eher zufällig strich ich mit meinen Fingern beim Lesen des Textes über die untere weißere Hälfte.
Ich runzelte die Stirn. Das Papier dort unten war nicht glatt. Es war nicht so, dass es gefaltet worden war oder Ähnliches, eher als – ein Durchdruck. Jemand hatte ein Blatt Papier auf dieses hier gelegt und dann etwas darauf geschrieben. Ob das wohl von Natasha war? Die Kleine hatte bestimmt mitbekommen, dass ich auf diese Art und Weise des Öfteren den Namen unserer zukünftigen Pflegefamilie herausgefunden hatte.
Ich kramte ungeduldig nach einem Bleistift. Die Nachricht, die dort stand, würde ich wohl freilegen.
„Hast du was gefunden, Welpe?", fragte mich Sirius, während ich hektisch nach meinen Bleistiften wühlte.
„Ich glaube schon."
Endlich fand ich meinen Faulenzer, welchen ich ungeduldig auf den Tisch kippte. Meine heiligen Stifte rollten in alle Richtungen davon. Die, die drohten bei mir runter zu fallen, fing ich noch auf, doch die anderen ignorierte ich. Nur einen Bleistift hielt ich noch davon ab, rüber zu Remus zu rollen, nur um damit die Nachricht freizulegen.
„Da hatte jemand wohl Langeweile", murmelte Sirius, als er die freigelegten Zeichen sah. Ich musste aufgrund des Kommentars anfangen zu grinsen. Anders als mein Vater erkannte ich, dass es viel war, aber keine Langeweile.
„Das ist Natashas Nachricht. Sie hat das Freimaurer-Alphabet genutzt, um sie zu verschlüsseln. Ares hat es uns beigebracht. Wir haben eigentlich nur solche Dinge von ihm gelernt", erzählte ich etwas kleinlaut. Ein wenig hatte ich Angst, dass es die Erwachsenen hier am Tisch sauer auf den Kriegsgott werden würden, weil er mir beigebracht hatte, wie ich Geheimbotschaften entschlüsseln konnte, aber das Lesen und Schreiben war nie ein Thema gewesen. Zu seiner Verteidigung, als ich nicht mehr zur Schule ging, hatte ich im ersten Jahr genug andere Dinge zu lernen und danach hatte das Thema Schreiben und Lesen mich einfach immer nur frustriert. Tat es heute noch immer oft, wenn ich mal wieder dabei zusah, wie irgendjemand ein Buch an einem Abend verschlang, während ich mühevoll zwei Kapitel las.
„Und wie funktioniert das Freimaurer-Alphabet?", überging Sirius einfach dieses unangenehme Thema. Ich atmete erleichtert auf. Egal ob er sauer war oder nicht, er würde es einfach für sich behalten.
„Das ist eigentlich ganz einfach. Also du malst einfach zwei Gitter auf, mit jeweils neun Zellen." Ich zog ein Blatt Papier heran und zeichnete besagtes auf.
„Und dann noch zwei schräg stehende Kreuze. Dann fängst du beim ersten Gitter an, dass Alphabet hereinzuschreiben. Von oben links, nach unten rechts. Ein Buchstabe pro Zelle. Die nächsten neun Buchstaben kommen dann in das nächste Gitter. Danach werden die beiden Kreuze beschriftet. Erst oben, dann links, rechts und unten. Bei dem zweiten Gitter und dem zweiten Kreuz werden zu den Buchstaben dann noch Punkte gemalt." Ich beendete das Aufmalen des Alphabets und zeigte es stolz Sirius.
„Wenn du jetzt wissen willst, welcher Buchstabe welches Zeichen ist, musst du einfach gucken, von welchen Strichen der Buchstabe eingekesselt ist. Ein A hat rechts und unten einen Strich, also ist A sozusagen ein gespiegeltes L. Das E wäre ein Quadrat und das N ein Quadrat mit Punkt drin. Unsere Nachricht wäre also –" Ich schrieb die ganzen Buchstaben auf. Anstelle eines Wortes hatte ich allerdings einen reinen Buchstabensalat vor mir.
„Das ergibt Blödsinn. Welpe, ich fürchte, es hatte doch nur jemand Langeweile und du überinterpretierst das jetzt. Tut mir leid, mein Teeniewelpe. Ich weiß, du willst deine Schwester unbedingt finden."
„Das ist von Natasha. Sie – sie –" Irgendwas musste meine kleine Tyra noch gemacht haben. Worauf würde ich sonst noch kommen? Was hatte Ares uns noch über Verschlüsselungen beigebracht? Erstmal hatten wir mit ziemlich Schlechten angefangen. Das Freimaurer-Alphabet fand man heutzutage in jedem zweiten Buch, ansonsten hatten wir noch die Caesar-Chiffre, welche man mit einer Häufigkeitsanalyse bei längeren Texten einfach entschlüsseln konnte, und die Vigenère-Verschlüsselung.
Vielleicht hatte sie es einfach mehrmals verschlüsselt. Schließlich hatte sie es auch schon als Durchdruck versteckt. Warum sollte sie also nicht mehr als nur eine Verschlüsselungsmethode nutzen sollen? Doch welche hatte sie noch genutzt? Cäsar oder Vigenère? Und mit welchem Schlüssel? Es musste irgendetwas Offensichtliches sein. Welcher Schlüssel war es bei Tyra? Vielleicht ein N?
Ich begann die Buchstaben mit N entschlüsselt aufzuschreiben, doch es entstand einfach nur ein anderer Buchstabensalat. Das war es also auch nicht. Was konnte es denn noch sein?
„Welpe, das bringt doch nichts. Du hast das richtig gemacht. Vielleicht wollte Natasha auch wirklich eine Botschaft schicken und hat es falsch gemacht, aber diese Nachricht ergibt keinen Sinn." Sirius legte mir beruhigend eine Hand auf den Arm, womit er mich allerdings auch davon abhielt weiterhin Buchstaben auf das Blatt zu kritzeln.
„Natasha hat keine Fehler gemacht. Sie hat mir zugetraut, diese Nachricht zu entschlüsseln, also tue ich es auch. Sie hat die Nachricht nur mehrmals verschlüsselt. Ich komme noch dahinter. Sie hat es mir zugetraut. Ich werde sie nicht enttäuschen", verkündete ich. Mein Blick glitt wieder zu dem Buchstabensalat, während ich weiter darüber nachdachte, was ich noch ausprobieren konnte. Vielleicht ihren ganzen Namen als Vigenère-Verschlüsselung?
Ich wollte die neue entschlüsselte Botschaft aufschreiben, doch Sirius Hand hielt mich davon ab. Ich würde mich erst befreien müssen, um weiter zu kritzeln. Da ich ihn allerdings mit der Aktion wahrscheinlich verletzen würde, ließ ich es lieber bleiben. Stattdessen gab ich ein resigniertes Seufzen von mir, bevor ich den Bleistift fallen ließ.
„Wollen wir ein wenig raus gehen? Eine Runde spazieren? Antiope freut sich bestimmt, wenn wir ein wenig mit ihr herumtollen und du kommst mal wieder etwas auf andere Gedanken."
„Apparierst du mit mir nach Nordirland? Zum Friedhof?", fragte ich vorsichtig. Wenn ich nicht mehr an Natasha denken sollte, war das bestimmt nicht in seinem Interesse.
„Wir apparieren dahin", erklärte mein Vater sehr zu meiner Überraschung, ohne zu zögern. „Ich werde den Vielsafttrank holen und du könntest deine Stifte wieder einräumen. Nur weil Marlon und ich dich vielleicht etwas zu viel verwöhnen, musst du nicht unpfleglich deine Sachen behandeln." Mir wurde ein kurzer Kuss auf die Wange gedrückt, bevor der Flüchtige meinen Arm wieder losließ.
Sofort begann ich meine Stifte wieder zusammen zu suchen. Mit einem amüsierten Lächeln bekam ich von Remus die zurück, die beim Auskippen zu ihm gerollt waren. Diese nahm ich nur allzu gern wieder an mich.
„Mache dir nicht so viele Gedanken, in Ordnung?", wurde mir von meinem ehemaligen Lehrer geraten. „Das wird alles wieder. Wie wäre es, wenn du Blaise einen Brief schreibst, dass du mal für ein Abendessen herüberflohst. Also für ihn Abendessen und für dich Brunch."
„Ich soll mich mal wieder wie ein normaler Teenager benehmen?", fragte ich vorsichtig nach.
„Ja, das würde dir sehr wahrscheinlich mal wieder guttun. Du machst dir zu viele Gedanken wegen Natasha und Adina. Sirius macht sich deshalb Sorgen um dich. Er will dir die Last von der Schulter nehmen, weiß aber nicht wie. Und er weiß auch nicht, wie er all das, was noch dazu kommen wird, von deinen Schultern nehmen soll. Lenke dich ein wenig von den unschönen Dingen ab und halte die schönen Dinge fest."
„So wie ein Date mit Blaise?", fragte ich unsicher nach.
„Ja, so wie ein Date mit Blaise. Auch wenn es bei Sirius und Marlon wahrscheinlich einen Herzinfarkt auslöst, wenn du es jetzt als Date betitelst. Aber einen der guten Art. Schreibe deinem Blaise noch einen Brief, bevor wir nach Nordirland appariert. Von dort braucht er nämlich nur einen Bruchteil der Zeit."
„Hilfst du mir beim Schreiben des Briefes?", fragte ich vorsichtig nach.
„Wenn du dich dann besser fühlst, helfe ich dir. Aber ich bin mir sehr sicher, du kannst das auch alleine. Komm her, Patricia." Remus klopfte auf seinen Schoß, auf welchem ich nur allzu gern Platz nahm. Dann zog ich mir einen Zettel heran, um den Brief an Blaise zu schreiben. Der Werwolf schaute mir dabei zu, während er mir vorsichtig über die Schulter strich.

Hexagramm - LöwenmutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt