Um mich herum war nichts zu sehen außer die Erdfläche, auf der ich stand. Egal, in welche Richtung ich sah, selbst am Horizont war nichts zu sehen, was auf irgendwelche anderen Menschen oder auch nur anderes Leben deuten konnte. Nicht einmal eine Blume oder ein Grashalm waren irgendwo zu sehen. Nichts, was darauf hindeutete, es wäre gut, wenn ich in eine bestimmte Richtung lief.
Ich wollte gerade einfach loslaufen, in der Hoffnung, irgendwann doch einmal auf etwas anderes als Erde zu stoßen, da war über mir der Schrei eines Vogels zu hören. Neugierig sah ich hoch, nur um einen Adler zu erblicken, welcher langsam seine Kreise über mich zog.
„Der Vogel, frei im Wind", flüsterte leise irgendeine mir nicht bekannte Männerstimme. Ich sah mich suchend nach dieser um, doch bis auf der Adler war kein anderes Lebewesen zu sehen.
In diesem Moment flog das Tier über mir einfach los. Kurz starte ich ihm etwas überrumpelt nach, bevor ich ihm hinterher eilte. Eigentlich war es komplett irrelevant, wo dieser Vogel hinwollte, denn an diesem Ort würde es sehr wahrscheinlich Wasser und Essen geben. Zwei gute Voraussetzungen, dass ich dort zumindest eine Zeit überleben konnte.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dem Adler schon gefolgt war. Mir selbst kam es wie eine absolute Ewigkeit vor, doch die Sonne bewegte sich in der Zeit kein Zentimeter. Daher konnte es wohl nicht allzu lang sein. Noch immer war am Horizont nichts zu sehen, was auf weitere Lebewesen bis auf den Vogel und nun einmal mich hinwies.
Hinter mir war das Fauchen eines Bären zu hören. Automatisch wirbelte ich herum, nur um einen riesigen Dunkelbraunen zu erblicken. Anders als ich gedacht hätte, kam er aber nicht auf mich zu oder beschloss die Flucht, zu ergreifen, sondern er saß tatsächlich auf einem Stuhl an einem Tisch und lieferte sich ein Armdrücken mit – ich blinzelte mehrmals, bevor ich mir kurz selbst in den Arm kniff, nur um sicher zu sein – er lieferte sich das Armdrücken tatsächlich mit Otrere. Allerdings schien keiner von beiden wirklich die Oberhand zu haben.
„Die Prinzessin, stark wie ein Bär", flüsterte die Stimme erneut, weshalb ich mich wieder umsah. Doch noch immer war niemand außer mir und Otrere zu sehen. Die ehemalige Amazonenkönigin allerdings hatte definitiv gesprochen. Zum einen hatte sie während der Worte gar nicht ihre Lippen bewegt, zum anderen kam die Stimme aus einer ganz anderen Richtung.
Ich sah wieder zu Otrere, welche sich noch immer mit dem Bären ein Armdrücken lieferte, ohne dass einer von beiden zu gewinnen schien. Auch der Adler zog noch immer seine Kreise über der Szenerie.
Eine Stichflamme erschien genau mittig zwischen Otrere und den fliegenden Adler. Sie formte sich zu einem weiteren Vogel und erlosch schließlich. Zurück blieb ein wunderschöner Phönix, welcher nun ebenfalls seine Kreise über der Amazonenkönigin zog. Dabei verringerte er allerdings den Abstand zu ihr. Auch der Adler flog langsam aber sicher immer weiter in Richtung Boden. Und dann berührte der eine Flügel des Phönix Otrere und der andere den Adler.
„Durch den Phönix verbunden", ertönte die Männerstimme ein drittes Mal, gerade als der Phönix in Flammen aufging. Mit großen Augen beobachtete ich wie das Feuer in Windeseile auf Otrere und den Adler überschlug, bis alle drei in einem riesigen Flammenmeer standen. Auf den Bären, der noch immer mit der ehemaligen Amazonenkönigin Armdrücken machte, schlug es allerdings nicht über. Stattdessen löste er sich einfach in Luft auf, als hätte er nie existiert.
Langsam legten sich die Flammen wieder. Es waren allerdings alle drei verschwunden. Kein Phönix mehr, kein Adler und auch keine Amazonenkönigin. Nicht einmal Asche blieb über. Nur eine kleine Flamme blieb zurück, welche sich zischend zu einer ziemlich großen Primel formte und so zurückblieb.
„Entsteht die Blume", hörte ich ein viertes Mal die Stimme.
Mein Gesicht war nicht mehr an Marlons Brust vergraben, dafür waren jetzt seine Arme um meinen Bauch geschlungen. Vermutlich hatte ich mich im Schlaf gedreht. Langsam schlug ich die Augen auf, weshalb ich schemenhaft die Blumen, welche mir Blaise geschenkt hatten, erkennen konnte, welche auf meinem Nachtisch standen. In der Mitte überragte die türkisene Rose die anderen Pflanzen. Eine Rose für Blaises kleine Rose.
Ich drehte mich wieder zu Marlon, um an ihn gekuschelt wieder einzuschlafen. Leider fühlte ich mich gar nicht mehr müde, sondern eigentlich ziemlich fit. Ich drehte mich erneut um, nur um auf den Wecker vor mir zu sehen. Vier Uhr, solange hatte ich also noch gar nicht geschlafen. Eigentlich müsste ich noch müde sein. Vielleicht setzte ich allerdings unterbewusst meine Magie ein, um wach zu bleiben.
Mit einem leichten Seufzen schälte ich mich aus meiner Decke. Wenn ich nicht mehr schlafen konnte, würde ich halt den Rat meiner Väter annehmen und einfach lesen gehen. In der Bibliothek hier gab es doch bestimmt Bücher über die Bedeutung von irgendwelchen Zeichen. Zum Beispiel die Bedeutung des Vogels.
Ich versuchte, die Tür zu Marlons Schlafzimmer möglichst leise hinter mir zu zumachen. Da er bisher von meinem Aufstehen noch nicht wach geworden war, wollte ich ihn wirklich ungern dadurch wecken, dass ich nun rausging. Er sollte noch friedlich weiterschlafen, während ich mich hinter Büchern verschanzte.
Ich wollte gerade loslaufen, als eine weitere Tür geöffnet wurde. Sirius kam aus seinem Schlafzimmer. Den dicken Augenringen nach zu urteilen, hatte er bisher noch nicht geschlafen. Als er mich erblickte, machte sich ein ziemlich überraschter Ausdruck auf seinem Gesicht breit.
„Welpe, warum bist du denn wach?", wurde ich besorgt gefragt.
„Ich bin wieder aufgewacht und kann nicht wieder einschlafen. Also dachte ich, ich folge deinem Rat und werde etwas in der Bibliothek lesen. Warum bist du wach?", fragte ich meinen Vater.
„Ich konnte einfach nicht schlafen. Manchmal fällt mir das schwer", murmelte er und rieb sich über die Stirn, fast als hätte er von dem Schlafmangel mittlerweile Kopfschmerzen.
Ich runzelte die Stirn. Dass Sirius manchmal nicht schlafen konnte, war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Immer wenn ich beim ihm schlief, war er am nächsten Morgen fit und ausgeruht. Wenn ich mal in der Nacht aufwachte, war er noch am Schlafen, außer wenn ich mal einen meiner seltenen Albträume bei ihnen hatte. Dann war er immer schon wach, strich mir über meine Haare, um mich wieder zu beruhigen. Doch bisher hatte ich immer angenommen, er wäre wach, weil ich um mich geschlagen oder geschrien hatte.
„Warum kannst du manchmal nicht schlafen?", hinterfragte ich die Antwort.
„Genauso wie in deinem Kopf deine Vergangenheit herumschwirrt, schwirrt in meiner die meine herum. Auch wenn ich keine Albträume habe, weil ich vorher immer in die Zwischenwelt reise, heißt es noch lange nicht, dass ich mich nicht manchmal mit ihr auseinandersetzen muss. Dann kann ich schlecht einschlafen. So wie heute. Es ist nicht schlimm. Ich lese dann, um mich etwas von meinen Gedanken abzulenken. Ich wollte auch gerade zur Bibliothek, um mir ein neues Buch zu holen."
„Was aus deiner Vergangenheit lässt dich heute nicht schlafen?", wollte ich weiter wissen.
„Vieles, mein kleiner Welpe. Askaban, manchmal meine Eltern und – ich habe einen Krieg miterlebt, Patricia. Das macht keinen Spaß. Egal, ob normaler Mensch, Zauberer oder Nymphe. Sogar einer Kriegsnymphe geht das an die Nieren. Du siehst deine Freunde sterben, deine Familie. Angst, Trauer, all diese Dinge, die du auch schon in deiner Kindheit zu viel erlebt hast. Sie werden die nächsten Jahre nicht weniger werden. Ich wünschte, ich hätte dich davor beschützen können."
„Du brauchst mich nicht zu beschützen. Nicht vor dem Krieg. Ich habe keine Angst vor ihm. Ares hat mir von vielen erzählt. Ich weiß, was auf mich zukommt. Ich weiß auch, warum du dir Sorgen machst. Emotionen gehören nicht gerade zu meiner Stärke. Aber jetzt habe ich dich und Marlon. Und Ari, Sue und Roux. Ihr seid für mich da. Wir werden das überstehen. Alle gemeinsam. Irgendwann werde ich dann nach meinen Fluch zu euch nach Hause kommen und ihr nehmt mich wieder auf. Weil ihr meine Familie seid."
Sirius machte den Mund auf, als wolle er irgendetwas zu mir sagen, doch dann schloss er ihn einfach wieder. Kurz schien er zu überlegen, bevor er mir einen Arm um die Schulter legte und mich an sich zog. Automatisch lehnte ich meinen Kopf gegen seine Schulter. Dann bekam ich im laufen einen Kuss auf die Schläfe.
„Genau das sind wir. Eine Familie. Und das werden wir für immer bleiben, kleiner Welpe. Egal, was passiert."
„Auch wenn Carolin wieder hier auf der Erde ist?", hinterfragte ich die letzte Aussage meines Vaters. War es wirklich ein egal, was passiert, oder nur ein, bis ich nicht mehr in sein Leben passte?
„Patricia, Carolin und ich lieben dich. Sie ist vielleicht nicht hier auf der Erde, aber trotzdem hat sie ihren Welpen sehr lieb."
„Und ihr Kätzchen mit Sicherheit auch. Genauso wie du Kira lieb hast. Ich will nicht, Kira ihre Mutter wegnehmen, wenn ich sie gar nicht haben will. Ich bin mir sehr sicher, Kira hat eine Verwendung für eine Mama. Sie – sie saugt Eltern auf wie ein Schwamm. Ich bin nicht gut darin, Eltern zu haben. Ich versuche sie immer loszuwerden."
„Bisher machst du dich ganz gut mit deinen zwei Vätern. Und ich bin mir sicher, du wirst auch mit Carolin sehr gut klarkommen. Sie ist die liebste und herzlichste Person, die ich je kannte."
„Sie wird zu Kira und ihrer Familie wollen", gab ich leise zu. „Wirst du bei ihr bleiben? Dann gehe ich zu Marlon. Du musst –"
„Welpe, nein", unterbrach mich Sirius und stoppte, nur um im stehen eindringlich weiter zu reden. „Familie ist nicht etwas, das endet. Und das weißt du. Ich werde immer dein Vater sein, so wie dein Papa immer dein Papa und deine Mama immer deine Mama sein werden. Deine Familie wird größer, nicht kleiner. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Carolin wieder auf die Erde kommt, werden wir eine Lösung finden, wie wir alle glücklich sein werden. Vielleicht bleiben wir zu viert, nur du, Harry, Carolin und ich. Wir können wieder in unser altes Haus ziehen. Oder wir ziehen in die Nachbarschaft von Kira und den anderen, damit Carolin sie öfter sehen kann. Aber du kriegst den Abstand zu ihnen, den du brauchst. Da musst du dir keine Sorgen machen. Ich habe dir versprochen, wir werden nicht bei Samuel und den anderen einziehen, daran halte ich mich."
„Ich habe dich lieb, Sirius." Ich kuschelte mich an die Brust meines Vaters, welcher mir mit einem glücklichen Lächeln einen Kuss auf den Haaransatz drückte.
„Ich dich auch, kleiner Welpe."
Langsam löste ich mich wieder von meinem Vater, damit wir unseren Weg in die Bibliothek fortsetzen konnte. Von unserer Position aus konnten wir die Tür dieser auch schon sehen. Noch gut zehn Meter, dann waren wir dort.
„Erzählst du mir ein wenig mehr von deiner Vergangenheit?", fragte ich Sirius, welcher sofort nickte.
„Natürlich, Welpe. Immer wenn du das gerne willst."
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Hexagramm - Löwenmut
Fiksi PenggemarDreizehn Nymphen auf der Erde, zwölf in der Zwischenwelt, drei Prophezeiungen über sie. Der dunkle Lord ist wiedergekehrt. Diese Nachricht hängt wie ein Damokles-Schwert über Patricia. Noch immer nagt an ihr, dass der dunkle Lord glaubt, sie würde s...