Kapitel 4

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Ich saß mal wieder in der Bibliothek des Schlosses der Feuernymphe. Vor mir lag das Buch mit den Prophezeiungen, welche in den letzten Jahren von der Nymphe Apollons oder einem nahen Angehörigen gesprochen wurde. Eigentlich hatte ich es endlich lesen wollen, um zu erfahren, welche Rolle mir in diesem Krieg danach zuteil wurde, allerdings hatte Sirius mich davon abgehalten. Er wollte unbedingt vorher mit mir reden.
Doch anstelle mit der Sprache herauszurücken, was er mir sagen wollte, bevor ich mein Schicksal nachlas, saß ich nun mit ihm und Marlon in der Bibliothek. Bisher hatte keiner der beiden den Mund geöffnet, um mir zu sagen, was sie von mir wollten. Da sie es mir sagen wollten, bevor ich las, hieß es wohl, es hatte etwas mit meiner Rolle im Krieg zu tun. Vermutlich empfanden sie diese als schlimm und wollten es mir jetzt schonend beibringen.
In diesen Moment räusperte sich Sirius und zog damit meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein Vater griff nach meinen Händen, ließ eine allerdings gleich wieder los, nur um sich nervös durch die Haare zu fahren.
„Also, mein kleiner Teeniewelpe, Marlon und ich müssen mit dir über die Prophezeiungen reden. Dort steht etwas drin, was du wahrscheinlich von uns hättest früher erfahren wollen, aber bisher wussten wir noch nicht, wie wir das Thema ansprechen sollten", fing mein Vater an, zu erklären, bevor er stockte. Offensichtlich wusste er auch jetzt noch nicht, wie genau er es ansprechen sollte, denn zum Ende hin sah er hilfesuchend zu Marlon.
„Du weißt, die Nymphen vor euch sind allesamt gestorben. Zuletzt Carolin, Maélys und Deborah Cruz, die Mama von der Natasha. Was du allerdings nicht weißt, ist, dass sie eigentlich nicht wirklich tot sind. Also schon nicht mehr lebendig, aber – Patricia, du weißt, dass es neben der Erde die Zwischenwelt und das Totenreich gibt. In erster warst du auch schon mehrmals und hast deine verstorbenen Eltern und Carolin getroffen. Carolin und auch die anderen Nymphen sind allerdings nicht im Totenreich, sondern in der Zwischenwelt gefangen. Damit sind sie rein technisch gesehen noch richtig tot, man kann sie wiederbeleben."
Etwas verunsichert sah ich zwischen meinen beiden Vätern hin und her. Man konnte Carolin und auch Maélys einfach wieder zurück in diese Welt holen? Sie mussten gar nicht in die Zwischenwelt reisen, um die beiden zu sehen? Doch warum holten sie die beiden dann nicht einfach wieder zurück? Carolin hätte doch schon vor Jahren für ihren Ehemann aussagen können, weshalb er wahrscheinlich niemals in Askaban gelandet wäre. Sie hätten mich vor Jahren zusammen suchen können. Bestimmt hätten sie mich irgendwann gefunden. Dann wären Natasha und ich in einer liebevollen Familie aufgewachsen, anstelle ständig in eine neue abgeschoben zu werden. Und Marlon hätte nie sein Leben riskieren müssen, um seine Verlobte zu sehen.
„Warum hast du dann versucht, dich umzubringen, anstelle Maélys einfach wiederzubeleben, Marlon?", hinterfragte ich die Aussage der beiden Erwachsenen.
„Weil wir es nicht können, Patricia. Jemanden aus dem Zwischenreich zurückzuholen ist möglich, man tut es jedes Mal, wenn man jemanden, der kurz vor dem Tod steht, wieder heilt. Bei den Nymphen vor euch ist es allerdings so, dass nichts mehr auf der Erde ist, was man heilen kann.
Normalerweise existiert man auf der Erde, die Seele ist aber schon in der Zwischenwelt. Rettet man die Existenz auf der Erde, kommt auch die Seele zurück, schafft man es nicht, geht der geliebte Mensch in das Totenreich über und kann kurzzeitig wieder in die Zwischenwelt reisen.
Bei den Nymphen ist es so, dass sie weder auf der Erde noch im Totenreich existieren. Nur ihre Seele ist in der Zwischenwelt und kann von dort weder weiter noch zurück. Man muss eine neue Existenz auf der Erde schaffen, damit sie wieder am Leben sind. Das geht über die Magie eines normalen Zauberers weit hinaus. Das geht auch über die Magie einer einzelnen Nymphe weit hinaus", gestand mir Sirius.
„Wir sind aber zehn Nymphen. Also wesentlich mehr als eine", stellte ich hoffnungsvoll fest. Wenn ich irgendetwas dazu beitragen konnte, Carolin und Maélys aus dem Totenreich zu holen, würde ich es machen. Egal, was es mich kosten würde.
„Welpe, es müssen alle Nymphen mitmachen. Alle dreizehn Nymphen, also auch die von Hades. Deshalb ist es zwar theoretisch möglich, dass wir die beiden und alle anderen Nymphen der vorherigen Generation zurück auf die Erde holen, aber in der Realität ist es unmöglich. Wir wollten dir nur von dem Inhalt der letzten Prophezeiung erzählen, damit du es von uns hörst, nicht damit du jemanden zurückholst", erklärte mir Marlon bestimmt.
„Und wenn ich es doch kann? Wenn ich sie zurückholen kann?", hinterfragte ich die Aussage.
„Patricia, du machst dir schon genug Gedanken wegen Natasha", rief Sirius verzweifelt. „Zerbreche dir nicht auch noch den Kopf wegen einem unlösbaren Rätsel. Versprich mir das. Ich mache mir Sorgen, wenn die Probleme dich davon abhalten, zu essen, zu schlafen oder dein Leben zu genießen. Welpe, Carolin, meiner liebste Carolin ist seit Jahren tot. Das Gleiche gilt für Marlons Maélys. Sie hatten beide ein wunderschönes, wenn auch viel zu kurzes Leben. Jetzt bist du dran mit Leben. Auch du wirst eines Tages sterben, mein kleiner Welpe, und ich werde alles daran setzen, dass du dann schon sehr alt und sehr grau bist, doch wenn ich das nicht schaffe, will ich wenigstens wissen, du warst glücklich."
„Ich bin glücklich, weil ich euch beide habe. Reicht das nicht?", fragte ich vorsichtig nach. Zumindest mir reichte es das. Ich hatte zwei Väter, die mich wirklich liebten. Meine eigene kleine glückliche Familie, die leider gerade ohne ihr wunderschönes efeubewachsenen Cottage auskommen musste. Ob wir wohl ein neues zu Hause finden würden? Würde es wohl Sirius Elternhaus werden?
„Nein, mein kleiner Welpe, noch lange nicht", stellte Sirius bestimmt fest. „Fürs erste geben wir uns trotzdem damit zufrieden. Trotzdem denke darüber nach, ob du dir wirklich noch mehr belastende Dinge zumuten willst. So wie die Mission zwei Tote wieder zum Auferstehen zu bringen."
Mein Blick glitt zu dem Buch mit den Prophezeiungen. Eigentlich war ich mir sehr sicher, dass ich Sirius und Marlon gerne ihre beiden Frauen wiedergeben wollte. Zum einen, weil sie für mich immer alles taten, zum anderen aber auch, damit Marlon nie wieder einen Grund dafür hatte, in die Zwischenwelt zurückzukehren. Auch nicht, wenn ich irgendwann nicht mehr da war, um ihn ein Grund zum Leben zu geben.
„Wollt ihr die beiden aufgeben?", hinterfragte ich verunsichert. „Aber – ich dachte, ihr liebt sie!"
„Primi, das tun wir. Ich liebe deine Mama. Ich liebe sie vom ganzen Herzen. Und ich bin mir sehr sicher, dein Onkel Marlon vermisst noch immer jeden einzelnen Tag seine Maélys." Sirius sah zu meinem Sorgeberechtigten herüber, welcher zur Bestätigung nickte.
„Maélys und Carolin werden immer ein Teil von unserem Leben sein und ich werde mich immer fragen, was aus Maélys und mir geworden wäre, wenn sie nicht gestorben wäre. Trotzdem war es eigentlich schon vor vierzehn Jahren Zeit, sie loszulassen. Patricia, dass bedeutet nicht, dass wir sie nicht mehr lieben würden. Wir sind einfach nur stark genug, loszulassen, weil wir nichts ändern können."
Aber ich konnte es ändern. Ich konnte Sirius und Marlon ihre beiden großen Lieben wiedergeben. Ich musste nichts weiter tun, als den dunklen Lord und Adina dazu zu bringen, bei einem Zauber mitzuwirken, der für sie wahrscheinlich nur negative Folgen hatte. Und natürlich musste ich noch Natasha finden. Doch bei meiner kleinen Schwester waren wir momentan wohl auf einen guten Weg, das hieß, ich musste mich auf Ersteres konzentrieren. Und ich wusste auch schon, was ein guter Anfang war. Die Prophezeiung.
Bestimmt zog ich das Buch an mich heran und klappte es auf. Netterweise hatte jemand bei der Prophezeiung über die Auferstehung der Nymphen ein Lesezeichen hereingelegt, sodass ich nicht lange suchen brauchte.
„Patricia, bist du dir sicher, dass du das Lesen willst?", fragte Marlon vorsichtig nach.
„Ich bin mir sehr sicher. Ich will selbst zum Schluss kommen, dass es nicht möglich ist, die anderen aus der Zwischenwelt zu befreien, oder zumindest die Opfer zu hoch sind. Und wenn ich es anders sehe, werde ich sie euch zurückbringen", stellte ich bestimmt fest. Die beiden taten so viel für mich, das war jetzt meine Chance, ihnen etwas zurückzugeben.
„Ich glaube, die Prophezeiung bringt dich nicht wirklich weiter, bei der Frage, ob du die Nymphengeneration vor euch wieder zum Leben erwecken kannst, Welpe", stellte Marlon fest.
„Vielleicht gibt es doch Hinweise. Außerdem schadet Wissen nie." Nur die Reaktion darauf schadete manchmal, doch das würde mich nicht davon abhalten, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, meine zukünftigen Stiefmütter – oder ganz vielleicht auch meine richtigen Mütter Nummer zwei und drei – aus der Zwischenwelt zu holen. Daher steckte ich bestimmt meine Nase ins Buch und begann zu lesen.

Hexagramm - LöwenmutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt