Kapitel 8

228 19 0
                                    

Vor mir hüpfte ein paar Blaumeisen herum, welche gierig darauf warteten, dass ich noch mehr Brötchenkrümel auspackte und sie auf den Teller, welchen ich zwischen ein paar Ästen geklemmt hatte, um dort mein Mitbringsel drauf zu streuen. Die letzten Tage hatte ich mich oft hierher zurückgezogen, um dem Trubel im Schloss zu entgehen.
Obwohl das Gebäude so riesig war, hatte ich das Gefühl, dort gab es nirgendwo einen ruhigen Ort um nachzudenken. Egal, in welcher Ecke ich mich zusammenrollte, mindestens eine Person fand mich im Laufe der nächsten Stunde. Anfangs fingen sie noch häufig ein Gespräch an, fragten nach, ob alles in Ordnung sei und warum ich die ganzen Zauberbücher über die alte Magie las, doch nachdem ich gefühlt hundert Mal geantwortet hatte, das alles in Ordnung sei und ich noch nicht wüsste, was ich eigentlich in den alten Schriften suchte, hörten sie auf zu fragen. Meistens nickten sie mir nur kurz zu, bevor sie an mir vorbeiliefen, wahrscheinlich damit sie mich nicht störten, doch meinen Wunsch nach richtiger Ruhe reichte das nicht aus. Daher hatte ich irgendwann aufgehört, mich im Schloss zurückzuziehen, sondern stattdessen in den Pferdestall. Dieser war allerdings ebenfalls hoch frequentiert. Gerade Kira und Mary verbrachten gefühlt den halben Tag dort. Nachdem auch der Stall als Rückzugsort herausfiel, hatte ich angefangen, im Garten herumzustromern. Ich war immer weiter vom Schloss weggegangen, bis ich schließlich meinen perfekten Baum gefunden hatte.
Eigentlich war es gar keine einzige Pflanze, sondern er war Teil einer Baumgruppe, welche so dicht stand, dass die Blätter einen perfekten Schutz vor Wind und Regen boten. Die Äste waren dick genug, damit man sich dort gemütlich draufsetzen oder Sachen ablegen konnte. Zum Beispiel einen Teller für Brotkrümel, über welche sich die Blaumeisen hermachen konnten, oder die Bücher, welche ich nach einem passenden Zauber durchsuchte. Das Allerbeste an meinem Baum waren allerdings die Äpfel, die an diesem wuchsen, und die ganzen Beerenbüsche in der Nähe. Erdbeeren, Brombeeren und sogar Himbeeren konnte ich naschen, ohne meine kleine Lichtung zu verlassen.
Unter dem Baum wuchs eine Menge Moos, auf welchem ich sehr gerne saß, wenn Antiope mich mal wieder hierhin begleitete. Der riesige Hund sprang meistens durchs Unterholz, während ich mich mit meinen Zeichenblöcken oder den Zauberbüchern beschäftigte. Oft suchte sie sich irgendeinen Spielgefährten, um mit ihm zu spielen. Einmal hatte sie mit einem Rehkitz fangen gespielt, ein anderes Mal drei Bowtruckle gefunden, welche es anscheinend sehr lustig gefunden hatten, auf meinem Haustier zu reiten.
Doch obwohl ich hier so viel tierische Gesellschaft hatte, ein Mensch war bisher noch nicht zufällig vorbeigekommen und hatte mich gestört. Sirius und Marlon hatte ich meinen Baum gezeigt, nachdem ich dreimal das Abendessen verpasst hatte. Jetzt kamen sie, wenn ich mal wieder nicht die Uhr im Blick hatte, um mir ein Sandwich zu bringen und das Versprechen abzunehmen, später noch etwas Warmes zu essen. Mein leiblicher Vater fragte auch immer besorgt, ob ich vielleicht darüber reden wollte, was mich so sehr beschäftigte. Bisher hatte ich es allerdings noch nicht übers Herz gebracht, ihm zu gestehen, worüber ich nachdachte. Stattdessen fragte ich, wie der Tag in seinem Elternhaus war, welches er mit noch ein paar weiteren Ordensmitgliedern irgendwie so weit bewohnbar machen wollte, dass dort das Hauptquartier des Ordens des Phönix eingerichtet werden konnte. Als Antwort bekam ich immer ein unzufriedenes Grummeln und wir trafen die stille Übereinkunft, nicht weiter nachzuhaken.
Auch jetzt hörte ich wieder das leise Knacken im Unterholz, welches das Näherkommen meiner beiden Väter verriet. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich schon vor zwanzig Minuten hätte beim Essen erscheinen sollen. Ehrlich gesagt war mir der Sandwich-Service allerdings auch lieber als der mit meiner leiblichen Familie gefüllte Speisesaal.
Die Schritte kamen immer näher, bis schließlich sehr zu meiner Überraschung Remus mit einem Sandwich um die Ecke kam. Ich sah etwas verunsichert zu meinem ehemaligen Lehrer, welcher mir das Essen hinhielt.
„Du hast das Abendessen verpasst. Mal wieder", stellte der Werwolf fest. Ich nickte unsicher, während ich mein Essen annahm.
„Darf ich mich zu dir setzen?", wurde ich freundlich gefragt. Anstelle einer richtigen Antwort gab ich wieder ein Nicken von mir, welches Remus dazu veranlasste ebenfalls auf meinen Baum zu klettern.
„Du hast dir einen schönen Platz ausgesucht. Ziemlich entlegen, aber sehr hübsch", stellte Kiras Onkel fest, während er die Umgebung musterte.
„Die Äpfel und Beeren sind sehr lecker. Manchmal nasche ich davon", gab ich verunsichert zu. Jetzt wo ich es laut aussprach, wurde mir klar, dass ich nie gefragt hatte, ob ich eigentlich von Kiras Bäumen pflücken durfte. Es war ihr Schloss, ihre Früchte, nicht meine. Ich war nur Gast und futterte alles, als wäre es das normalste auf der Welt. Das war eigentlich ziemlich dreist von mir.
„Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du hier von den Büschen naschst. Du wohnst hier, genauso wie auch wir."
„Ich bin Gast", stellte ich fest. „Ihr wohnt hier und gewährt uns Unterschlupf bis Sirius entschieden hat, ob wir nun in sein ehemaliges Elternhaus ziehen oder doch lieber in das Haus von ihm und Carolin."
„Nein, Patricia, du bist hier kein Gast. Du bist ein Teil dieser Familie, genauso wie du Teil der Kriegsynmphenfamilie bist. Daran kannst du nichts mehr ändern. Auch nicht wenn du Doppelagentin wirst. Bist du deshalb schon ein wenig weiter gekommen?", wurde ich freundlich gefragt.
„Ich suche einen Zauber, den ich dem dunklen Lord unterjubeln könnte. Ich werde ihm weiß machen, dass wir den für ihn positiven Zauber sprechen werden und in Wahrheit werden wir aber die anderen Nymphen zurückholen", erklärte ich Remus, was ich die letzten Tage angestellt hatte.
„Also hast du dich für ja entschieden? Du wirst als Doppelagentin anfangen?", hakte der ehemalige Lehrer weiter nach. Ich schüttelte den Kopf. Nein, entschieden hatte ich mich leider noch nicht. Ich würde es auch erst tun, wenn ich sicher wusste, ob es überhaupt notwendig war oder nicht.
„Wenn ich keinen passenden Zauber finde, muss ich mir keine Gedanken darüber machen, ob ich überhaupt Doppelagentin sein will oder nicht", stellte ich fest. Ich sah verunsichert zu dem Buch auf meiner rechten Seite herüber.
„Patricia, sei bitte ehrlich zu mir. Wenn du einen passenden Zauber findest, gibt es eine Chance, dass du es nicht tun wirst? Dass du bei uns bleibst?" Ich schluckte schwer. Würde ich es am Ende übers Herz bringen, Sirius zu sagen, dass ich seine Ehefrau nicht zurückholen wollte, weil ich zu viel Angst hatte? Wollte ich zugeben, dass meine Angst wichtiger war, als die Welt zu retten? War ich eine solche egoistische Kriegsnymphe? Sollte ich nicht die Heldin dieser Geschichte sein? Diejenige, die loszog und die Welt rettete?
„Ich denke, ich werde ja sagen", gab ich unsicher zu. „Ich bin die Kriegsnymphe. Wenn ich kneife, wer soll sich dann gegen Voldemort stellen?"
„Der Orden? Du als Teil von ihm? Deine Familie?", schlug Remus Leute vor.
„Mein Schicksal ist es, die Nymphengeneration vor mir zurückzuholen. Das werde ich annehmen und ich werde mit den Konsequenzen leben. Und momentan ist die Konsequenz nun einmal, dass ich euch verlassen werde. Für einige Zeit."
„Und wenn du deine Mission abgeschlossen hast, wirst du in diesem Schloss mit offenen Armen empfangen werden. Du solltest allerdings mit den anderen darüber reden, warum du sie verlässt. Du brauchst in diesem Krieg die Unterstützung deiner Familie, auch wenn sie nur heimlich hinter dir stehen können."
„Schmuggelst du McGonagalls Ingwerkekse und deinen Tee zu mir?", fragte ich vorsichtig nach.
„Und frischgepflügte Erdbeeren von hier. Kiloweise", wurde mir versprochen. „Kommst du mit rein? Wenn man sich nicht gerade unter diesen Bäumen versteckt, ist es hier draußen ziemlich nass und ungemütlich. Wir sitzen zusammen im Salon, trinken Tee, spielen Karten und hoffen, dass in unseren Bäuchen bald Platz für den leckeren Vanillepudding ist. Wir könnten noch ein paar von den leckeren Erdbeeren für den Nachtisch mitnehmen. Du futterst dort gemütlich dein Sandwich oder lässt dir etwas vom eigentlichen Abendessen warm machen. Wie hört sich das für dich an?"
„Sehr familiär. Ich glaube, es ist eine bessere Idee, wenn ich mich weiter etwas abkapsele."
„Patricia, du wirst dich noch früh genug verabschieden müssen. Du wärst überrascht, wie gerne die Leute glauben, dass du dich von allen abwendest, wenn sie einmal davon überzeugt waren, du bist die böse. Du beweist jeden Tag aufs neue, was du für ein gutes Herz hast, trotzdem werden alle nur sagen, sie haben es schon immer gewusst, wenn du dich dem dunklen Lord anschließt. Und der dunkle Lord will, dass du auf seiner Seite stehst. Er glaubt, ihr wärt gleich. Zwei Waisenkinder, die nie ihren Platz in der Welt gefunden haben. Er versteht nicht, dass du ihn schon längst gefunden hast. Hier bei deiner Familie. Also lass in einfach in den Glauben, du hättest hier keinen Platz."
„Manchmal habe ich noch immer das Gefühl, ich hätte ihn nicht. Ich fühle mich noch immer häufig überfordert, als wäre ich in ein perfekt eingespieltes System geworfen wurde und nun ein einziger Störfaktor bin. Aber ich spiele gerne mit Kian und den Hunden. Mit Mary gehe ich gerne fotografieren. Mit Kira habe ich noch nicht wirklich etwas gefunden, was wir miteinander machen können. Sie ist gut im Schachspielen, nicht so einfach zu besiegen, wie es bei euch anderen der Fall ist. Und sie spielt geduldig mit mir Karten. Bei Samuel sitze ich gerne, wenn er Zeitung liest."
„Und damit hast du einen Platz im System. Du hast Platz bei uns, auch wenn es dir manchmal anders vorkommt. Und du kannst mit ihnen allen über alles reden. Auch über dein Vorhaben, eine Doppelagentin zu werden."
„Ich werde später mit Marlon und Sirius reden. Sie will ich einweihen, die anderen nicht. Je weniger von meiner Mission wissen, desto besser ist es. Welche von den anderen Nymphen ich einweihe, werde ich noch entscheiden, doch Kira und Mary werden nicht dabei sein. Sie sind vollkommen untrainiert. Jemand könnte in ihren Kopf eindringen und alle Informationen aus ihnen herausholen."
„Dann werde ich das respektieren und Stillschweigen bewahren. Lass uns aber wirklich hereingehen. Setze dich noch so oft wie möglich zu Samuel, wenn er Zeitung liest, fotografiere ganz viel mit Mary, besiege Kira in Schach und spiele mit Kian. Und zu mir kommst du, wenn du mal wieder nicht schlafen kannst und lieber eine Geschichte hören willst. Auf meinem Sofa habe ich immer ein Plätzchen für dich."
Remus sprang mit einem Satz von dem Baum herunter. Schließlich sah er zu mir hoch und streckte mir seine Hand entgegen. Er wollte es mir erleichtern, ihm zu folgen. Erst von diesem Baum runter, welcher mein sicherer Hafen geworden war und dann zurück ins Schloss, damit ich wieder zurück in meine leibliche Familie fand. In das System, in welchen ich mich so oft wie ein Fremdkörper fühlte.
Ich packte meine Sachen zusammen. Das dicke Zauberbuch, mein Zauberblock, meine Wasserflasche und die zerknüllte Tüte, in der ehemals die Brötchenkrümel waren. Alles kam in meine Umhängetasche, welche ich an Remus herunterreichte, bevor ich mit meinem Sandwich hinterher sprang. Auf dem Boden angekommen, wurde das Essen ausgepackt, damit ich beherzt hereinbeißen konnte.
„Das heißt wohl, du willst keine Reste vom Abendessen."
„Doch, davon nehme ich auch noch Reste. Und ich will auch noch Erdbeeren für den Pudding pflücken", verkündete ich und drehte mich zu meinen Büschen um. Remus gab ein leises, unterdrücktes Lachen von sich.
„Wie konntest du dich nur die letzten Tage von so wenig ernähren?", wurde ich amüsiert gefragt. Ich biss mir auf die Unterlippe. Von wegen wenig. Ich hatte das Gefühl, jeden Tag ein wenig hungriger zu werden. Wie viel ich wohl essen würde, wenn ich und meine Kräfte erst ausgewachsen waren? Oder würde sich dann mein Essverhalten wenigstens annähernd wieder normalisieren?
„Was heißt wenig? Ich habe tagsüber Beeren und Äpfel gepflügt, Bananenchips gefuttert und nachts die Küche geplündert. Und ich wurde mit mehr Sandwiches versorgt als nur eines. Nicht dass ich mich über die Menge beschweren will. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mir überhaupt jemand etwas bringt. Ich wollte es nur erklären", murmelte ich beschämt.
„Du kriegst so viel Essen, wie du willst. Die Hauselfen, welche in der Küche arbeiten, kochen wirklich gerne. Deshalb sind sie wohl Köche geworden", stellte der Werwolf fest. Er zog seinen Zauberstab heraus und beschwor einen Eimer, wahrscheinlich damit wir die Erdbeeren dort drin platzieren konnten. Tatsächlich begann Kiras Onkel damit, genau das zu tun, während ich noch weiterhin mein Sandwich futterte.

Hexagramm - LöwenmutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt