Kapitel 71

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Bei Fremden
Ge. 03- Kapitel 71

Das Zwitschern hörte sich wirklich kraftlos an. Hakan holte aus seiner Tasche eine Verband und ein stabartiges Etwas heraus, welches genau zu dem Flügel passte. Okay, das mit dem Verband verstand ich. Man hat das ja einfach wegen Notfälle dabei oder so, aber was war mit diesem Stabdingster, das auch noch mit Glitzer verziert war? War das etwa auch normal, so etwas mit zu haben?

»Was ist das?«, fragte ich, weil ich einfach meine Neugier nicht halten konnte.
»Das ist ein- kein Plan. Ceylan hatte mir das gemacht, als ich gerade Mal in die Dritte ging oder so. Seit dem hatte ich das immer in meinem Etui.«
Oh man. Das ist so süß.
»Ai, wie niedlich«, meinte ich. »Ceylan ist so-ooo süß!«
»Ceylan war süß«, behauptete er und betonte das "war" besonders stark.
»Wieso bist du so fies zu deiner Schwester?!«
»Schwester? Ich würde sie nicht zu einer menschlichen Existenz zählen.«
»So so, menschliche Existenz also«, sagte ich auf doof. »Ich hasse solche Begriffe.«
»Solche Begriffe lieben dich.«
»Yep, ich bin so liebenswert!«
»Du bist so nervig!«

Ich fand es toll, dass er nebenbei reden und denn Vogel verarzten konnte. Das war so genial. Wahrscheinlich hätte ich mich nicht darauf konzentrieren können. Ich beobachtete ihn still schweigend dabei. Sein ernstes Gesicht starrte regelrecht auf den Kleinen. Mein Herz schlug sofort nicht mehr im Takt, meine Augen waren wie von einem Bann angezogen. Ich vergaß völlig, dass ich gerade in einem Café saß. Alles, was ich sah, war er. In mir schwirrte alles. Es war, als ob alles auf unscharf eingestellt worden war, nur er und ich waren im Rampenlicht.

»Ihre Bestellung?«, störte mich der Kellner. Ich sagte ihm schnell irgendetwas wahlloses auf und Hakan darauf auch. Zu dem Vogel sagte der Kellner nichts. Um ehrlich zu sein, sah er gar nicht einmal auf ihn. Hm.

Der Vogel zwitscherte wieder herum und versuchte mit seinem gebrochenen Flügel zu schlagen.
»Am besten, ich nehme ihn noch mit nach Hause«, bemerkte Hakan. Ich nickte ihm zustimmend. Unsere Bestellungen kamen. Wir holten uns danach auch noch stilles Wasser für den Vogel. Als wir dann aus dem Café gingen, holten wir etwas Essbares für unseren Verletzten.

»Bis Morgen!«, verabschiedete ich mich zum Schluss noch bei ihm. Am liebsten wäre ich noch bei ihm geblieben...
»Bis Morgen«, flüsterte Hakan und küsste mir auf die Wange. Sofort schoss das Blut mir wieder ins Gesicht. Wie eine Statue erstarrte ich und bewegte mich dann schwer vom Fleck. Oh man. Es war jedes Mal aufs Neue eine Überraschung für mich. Jedes mal wieder ein Gefühlschaos in mir.

Zu Hause öffnete mir Osman die Tür. Er sah verwirrt aus, als ich reinkam. »Damla?«, flüsterte er. Es war wie damals. Auch heute war Erdem im Wohnzimmer, nur kam er dieses Mal sofort auf mich zugerannt.
»Wo warst du?«, fragte Osman. »Du kannst dir nicht fassen, was für Sorgen wir uns gemacht haben!«
»Ich hatte eine Nachricht geschickt«, gab ich kalt von mir und ging zum Treppengelände.
»Das hätte auch jeder Spinner schreiben können, der dich entführt hätte.«
Darauf erwiderte ich nichts.
»Damla, sag doch etwas!«, rief Erdem.
»Damla-«, begann dann Osman, doch er beendete seinen Satz nicht. Damla Damla Damla. Ich machte immer alles falsch. In mir stieg eine Trauer. Vielleicht war ja gar nicht meine Mutter die Schuldige. Vielleicht war alles meine Schuld. Vielleicht hatte ich ja alles falsch gemacht. Quatsch. Oder?

»Ich will nur eins«, sagte Osman dann. »Ruf das nächste Mal bitte an.«
Schweigend stieg ich die Treppen in mein Zimmer hoch. Dieses Haus erdrückte mich. Ich schloss meine Augen und ließ mich auf mein Bett fallen. Ich erinnerte mich genau, wie meine Mutter hier war und mich bat, mit ihr zu gehen. Es war ihre Entscheidung zu gehen und meine zu bleiben. Wir waren verschiedene Wege gegangen. Ich hatte einfach nicht auf sie bauen können.

Ich putzte an dem Tag noch mein Zimmer, versuchte auf andere Gedanken zu kommen, versuchte zu lernen und starrte die meiste Zeit nur die Wand an, machte Yoga und telefonierte mit Alara. Alara erzählte mir von dem Tag mit Erdem. Sie waren wohl im Park gewesen und dann etwas Essen. Er hatte wohl über seine Vergangenheit gesprochen. Mit mir hatte er nie so etwas getan. Nie. Sollte ich beleidigt sein? Ne. Warum auch? Alara war sein Freundin und vielleicht wollte er mich nicht belasten.

Es klopfte an der Tür.
»Herein«, bat ich vorsichtig. Erdem betrat den Raum. Er setzte sich vor mich auf mein Bett und betrachtete mich mit seinen braunen Augen, die mir sofort wieder Schuldgefühle bereiteten. »Können wir reden?«
»Äh ja.«
»Gestern. Ich meine-«, er stoppte und sah mit seinen Augen wild im Raum herum. »Ich hab mir Sorgen gemacht. Ich bin verrückt geworden. Du glaubst nicht, wie schrecklich es war.«
Seine Augen wurden groß und zum ersten Mal sah ich, wie sie glasig wurden. Ich hätte sterben können.
»Ich hatte solche Angst, dass du auch gehst.«
Ein Schlag. Darauf folgte noch einer. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und meine Augen wurden auch glasig.
»Ich hatte solche Angst, Damla. Ich hatte Angst, dass du plötzlich verschwindest.«
Was bin ich bloß für ein Mensch? Ich umarmte ihn fest und ließ jeden Kummer aus mir heraus. Ich hatte garantiert meinen Weg gewählt und dieser Weg war hier. Bei meiner Familie.

Am nächsten Tag freute ich mich, weil es endlich Freitag war. Ich nahm mir vor, mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Das tat ich auch. Einigermaßen. Man konnte halt nicht alles auf einmal verarbeiten, aber es ging mir sehr viel besser als vorher. Mein Gefühl sagte mir, dass es bald sehr viel besser sein würde.

Ich machte mich wie immer fertig und ging heute mit Erdem zusammen in die Schule. Er sagte nicht viel dabei. Wir schwiegen die halbe Zeit. In der Schule sahen uns manche schief an. Vielleicht hatte es sich ja schnell rumgesprochen, dass wir Geschwister waren. Ich begrüßte mit Erdem Alara, die wie immer putzmunter war.

Schule verging wie immer. Ich verbrachte die Pausen bei Alara und Erdem. Nach der Schule traf ich mich kurz im Pausenhof mit Hakan. »Ich hab zu Hause ein kleines Chaos. Es wäre besser, wenn ich heute sofort nach Hause gehe«, meinte ich.
»Ist es wegen mir?«, fragte er und sah mich dabei entschuldigend an. »Etwa wegen dieser Nacht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wegen dir. Es- es ist wegen mir. Während ich Gold im Haus habe, trauere ich dem Kupfer nach. Das ist alles.«
Mit den Worten ging ich leise nach Hause. Zu Hause kochte ich etwas, weil ich genau wusste, dass die beiden nichts vom Kochen verstanden. Ich fragte mich sogar, was sie getan hatten, als sie noch alleine gelebt hatten? Hatten die ehrlich immer etwas bestellt?

Summend kochte ich und ging dann ins Wohnzimmer. Ich schaltete den Fernsehen an und machte es mir auf der Couch gemütlich. Später kam auch Erdem dazu und wir sahen zusammen fern.
Nach dem Abendessen stieg ich hoch und erledigte letzte Dinge und rief dann Hakan an.

»Alles okay zu Hause?«, fragte er sofort, als er ran ging.
»Ja, ist nichts Schlimmes oder so. Ich wollte nur zu Hause bleiben, weil das mit dem Abschied von meiner Mutter ein Schlag für alle war. Ich glaube, wenn ich bei ihnen bin, verarbeite ich alles besser.«
»Natürlich. Sie sind deine Familie.«
»Joah. Erdem ist schon wie mein Bruder, aber... ach, ist schon egal.«
»Wenn es egal wäre, hättest du es nicht erwähnt.«
»Tss. Woher willst du das denn wissen? Hä? Nur weil du in der Schule gut bist, heißt das lange nicht, dass du auch andere Sachen weißt«, lachte ich provokant. »Na ja, ich wollte eigentlich nur sagen, dass mir Osman immer noch eher fremd vorkommt. Keine Ahnung. Es ist, als ob ich ihn nicht so genau kenne.«
»Hmm...«
»Okay, du Schlaumeier. Jetzt gib mir mal 'ne Erklärung auf meine Reaktion!«
»Sorry, ich kann nur aus logischen Reaktionen Schlüsse ziehen.«
»Hakan!«
»Ist schon gut, schlag mich gleich nicht«, sagte er und ich stellte mir dazu sein Grinsen vor. Mir wurde sofort wieder warm ums Herz.
»Ich glaube, das ist normal. Du siehst Erdem immer, aber- äh, er hieß Osman, 'ne?«
»ja-aaah«
»Osman siehst du halt nicht so oft.«

»HAKAN, DU NUKLEARER ABFALL, KOMM SOFORT RUNTER!«, hörte ich vom Handy aus Ceylans Stimme.
»Ich muss kurz auflegen«, gab er sofort Bescheid.
»Hab ich schon gehört«, lachte ich ihn aus.
»Tschüss, Schöne.«
»Tschuss, Biest.«

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Ich veröffentliche nun auch meine Geschichte "Wiegenlied" auf Wattpad und würde mich freuen, wenn ihr einen Blick darauf werft. Es geht um Asli, einem Mädchen, welches durch gewisse Umstände gezwungen ist, in ein fremdes Auto zu steigen. Dort beginnt dann ihre Geschichte, denn sie sieht den Fremden Burak immer wieder und er bereitet ihr ziemliche Schwierigkeiten :)

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