Kapitel 44

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Bei Fremden

Ge. 03- Kapitel 44

Ich setzte mich auf meinen Platz und seufzte leise. Er saß gerade und sah aus dem Fenster, wie das erste Mal als ich ihn gesehen hatte. Wie das erste Mal machte er keine Anstalt, mich anzusehen, als ob ich seinem Blick nicht würdig war.

Ich richtete meinen Blick runter auf den Pult, weil ich irgendwie enttäuscht war- nicht nur von seinem Verhalten, sondern auch von meinem. Der ganze Mut hatte mich verlassen. Ich wollte ihm nicht einmal in die Augen sehen, denn das Gefühl überkam mich, als ob ich nicht einmal das Recht dazu hatte. Aber was konnte ich denn dafür!? Ich war dann eben die Stiefschwester von Erdem! Hatte ich mir das ausgesucht? Ich wusste doch nichts über diese Familie, bevor ich irgendwann vor deren Tür stand. Ich beleidigte mich selbst. Wie konnte ich nur so töricht sein? Sie waren gute Menschen. Gut. Vielleicht sogar besser als meine eigene Mutt- stopp Damla! Was denkst du denn da!?

Ich atmete tief ein und aus und sortierte dabei meine Gedanken, die total im Chaos lagen. Vielleicht sollte ich zuerst den Grund erfahren, warum sich die beiden hassten. Vielleicht war es ja nur harmlos, aber was, wenn es etwas schreckliches war?

»Du bist ja wieder in der Schule«, hauchte ich zu Hakan rüber, der inzwischen auf sein Buch sah. Ich sah ebenfalls starr auf mein Buch.

»Jemand hat wohl meine Mutter alarmiert, ich sei nicht in der Schule gewesen.«

Mist. Ich hatte also Recht gehabt. Ich hab ihn also tatsächlich verpetzt. Toll Damla! »Jemand hat sich vielleicht Sorgen gemacht? Du hättest es sagen können«, zischte ich.

»Ich wüsste nicht, was es dich angeht.«

»Schön«, fauchte ih und sah ihn von der Seite an. »Dann solltest du aber auch mit der Konsequenz leben können, dass ich dich verpetzte.«

Beleidigt sah ich auf mein Buch. Da spürte ich seinen Blick auf mir ruhen. Er musterte mich prüfend. »Du hast die Schuld und rechtfertigst dich?«

»Hakan«, entgegnete ich hart. »Du glaubst auch nur, was du siehst. Ich hab ehrlich nichts mit Erdem am laufen! Das würde auch nie passieren. Verstehst du? Niemand verarscht hier irgendwen. Wieso sollte ich so etwas tun?«

»Vielleicht bist du seine Freundin?«

»Aber ich war doch mit dir befreundet«- befreundet? War ich wirklich überhaupt mit ihm befreundet gewesen? »- bevor ich mit Nils Schluss hatte. Glaub mir doch.«

»Wieso hast du mir das an dem Tag nicht gesagt?«, fragte er mit der immer noch harten arroganten Stimme und blicke mich warnend an. Ich hätte vielleicht Angst gehabt, hätte ich nicht gewusst, was für ein guter Mensch er war.

»Ich konnte nicht«, gab ich zu. »Als ich dich so fertig gesehen habe, konnte ich gar nichts mehr. Nur noch das Atmen, das mir jedes Mal Stiche gab.«

Er sah mich fassungslos an, als hätte er diese Aussage niemals erwartet. Sein Blick wurde weicher, seine Stimme blieb jedoch noch wie gerade eben. »Du hast ihn umarmt... warum?«

Was sollte ich dazu sagen? Komm Damla! Augen zu und durch!

»Vielleicht ist Erdem ja nicht so schlimm, wie du es geglaubt hast. Ich finde, er kann ziemlich nett sein.«

»Du hast dich verliebt?«

»Nein!«, sagte ich sofort. »Nein, nein, gar nicht, allein der Gedanke. Nee.«

Es klingelte da und Hakan stand wie immer sofort auf. Er hatte sein Buch und seine anderen Materialien schon vorher eingepackt, auch wenn ich das gar nicht bemerkt hatte.

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