Kapitel 5 / Es tut dir Leid?

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Kapitel 5

Auf dem Platz war es mit einem Mal ganz still geworden. Ich stand zitternd vor meinem riesigen Gegenüber und starrte ihm, mit abnehmender Festigkeit, in die Augen.

Ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Natürlich wusste ich das.

Die Sache war nur die - er war zuerst zu weit gegangen. Er hatte zuerst das besondere Verhältnis verletzt, indem er mich so bloß gestellt hatte.

Ich spürte, wie sich Blicke in meinen Rücken bohrten. Nicht nur die Mannschaft besah die Szene mit einigem Entsetzen, auch die Cheerleader die weiter hinten auf dem Rasen trainierten, hatten mit ihrem blöden Gehüpfe aufgehört. Die Footballer brüllten sich nicht mehr gegenseitig an, was für Luschen sie waren.

Weil ich meinen Lehrer angebrüllt hatte.

Wie war das noch mal gewesen? Ich wollte nicht auffallen an der neuen Schule? Vermeiden, dass ich wieder die negativste Person war, die auf den Fluren umherlief?

Na das hatte ich wieder ganz prächtig hinbekommen. Innerlich klopfte ich mir sarkastisch auf die Schulter.

"Isabelle, du begleitest mich sofort in mein Büro.", sagte Mr.Styles leise ohne mich anzuschauen. "Der Rest von euch", nun bellte er die Worte über den Platz. "Abbauen und umziehen!"

Der Rest der Mannschaft nahm die Beine in die Hand, um so schnell wie möglich das Equipment vom Rasen runter zu bringen, während mich meinem Trainer mit eingezogenem Kopf hinterherlief.

Wie hatte ich mir meine gute Situation so schnell verbauen können? Das war schon beinahe lächerlich. Innerhalb von mageren acht Stunden war ich von der talentiertesten Läuferin zur größten Witzfigur der Schule geworden.

Harry würde mich aus dem Team werfen.

Er würde mich aus seinem Unterricht verweisen.

Er würde dafür sorgen, dass ich meine angemessene Strafe fürs tägliche Zuspätkommen bekam.

Und wenn er richtig sauer war, würde er mit der Schulleitung sprechen, damit ich von der Schule verwiesen wurde. Zumindest temporär.

Ich schlich hinter ihm in sein kleines Büro an der Seite der Sporthalle und sah dabei zu, wie er die Tür schloss. Ich brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Dieses wohlige Gefühl von Verständnis und Wärme, das ich dann immer bekam, hatte ich momentan definitiv nicht verdient.

"Belle, es tut mir leid.", hörte ich seine Stimme, wie aus einem Paralleluniversum.

Erschrocken blickte ich auf und sah ihn verwundert an. Hatte er gerade gesagt, dass es ihm leid tat? Ihm?

"Ich-", setzte ich an, doch ganz ungeniert schnitt er mir das Wort ab.

"Nein, ich hab dich eben wirklich nicht gut behandelt." räumte er ein. "Vermutlich wollte ich mir einfach nicht nachsagen lassen, dass ich dich bevorzuge oder so was ... du weißt, wegen heute Morgen und der Tatsache, dass du, meiner Meinung nach, die beste Läuferin bist."

Ich wurde rot. Ich hätte jetzt mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer Lobeshymne.

"Es tut mir leid, dass ich dich so angebrüllt habe.", sagte ich kleinlaut und schaffte es danach das erste Mal, ihm wieder in die Augen zu sehen, seitdem ich mich so unglaublich daneben benommen hatte.

Das hätte ich vielleicht lieber nicht tun sollen, denn wie schon so oft zuvor, schmiss mich der Anblick seiner Augen vollkommen aus der Bahn. Wie konnte das sein? Wie konnte ich mich so sehr in einem Blick verlieren, wie in Harry's?

Irritiert schüttelte ich den Kopf und versuchte klar geradeaus zu blicken.

"Ist schon gut, Belle.", erwiderte er auf meine Entschuldigung und lächelte den Boden an. "Jeder hat mal einen schlechten Tag. Und ich glaube, heute hatten wir ihn irgendwie beide."

Er ging zur Tür und öffnete sie für mich. Alles was ich zustande brachte, war ein schwaches "Bis Morgen", ehe ich die warme, trockene Luft vor der Tür einsog und merkte, wie meine Gedanken zu kreisen aufhörten.

Pflichtbewusst ging ich großen Schrittes zum Parkplatz, um mich in mein Auto zu setzen und Jolie abzuholen. Als ich auf die Uhr schaute, merkte ich, dass ich wieder einmal zu spät dran war; dieses Mal, um Jolie vom Kindergarten abzuholen. Auch wenn ich jetzt öfters das gemeinsame Abendessen mit meinem Vater über mich ergehen ließ, allein aufgrund der Tatsache, dass es Jolie irgendwie glücklich zu machen schien, beharrte ich jedoch darauf, die Kleine abzuholen.

Selbst wenn das bedeutete, mich immer wieder mit der dämlichen Kindergartentante Jenny anzulegen, die es einfach nicht einsehen wollte, warum sie eine Überstunde nach der anderen machen sollte, weil ich erst nach Ende der Kindergartenzeit Schule aus hatte.

Als Jolie dann endlich, gut in ihrem Kindersitz verpackt, auf dem Beifahrersitz saß und von ihrem aufregenden Tag im Kindergarten erzählte, bekam ich das kaum mit. Ich antwortete immer wieder mit Floskeln wie "Toll" und "Okay, aha", aber ich hörte nicht wirklich zu.

Niemals hätte ich erwartet, dass Mr.Styles so cool reagieren würde, wenn ich ihn anschrie. Ich hatte auch vorher schon Lehrer angebrüllt - immerhin war lieb und nett nicht meine Art - und dafür auch immer eine saftige Bestrafung bekommen.

Warum also war Harry, der sowieso schon den ganzen Tag so merkwürdig drauf gewesen war, nicht ausgerastet, wie sich das für einen Lehrer gehörte?

Ich beschloss, fürs erste nicht weiter darüber nach zu denken, sondern machte mich zu Hause daran, das Abendessen zu Kochen.

Es war schon merkwürdig. Zwar hasste ich das gesamte Haus nach wie vor aus tiefstem Herzen und zwar mit allem, was dazu gehörte, allerdings war es mir nicht schwer gefallen, mich an den offenkundigen Luxus darin zu gewöhnen. Es war nett, wenn man nicht jeden Tag überlegen musste, wo man am nächsten etwas zu Essen herbekam. Es war toll, wenn man zur Schule gehen konnte, weil sich ein Kindergarten um die kleine Schwester und eine Haushälterin um das zu Hause kümmerte. Und ja - es war irgendwo sogar ganz angenehm, einen Dad zu haben, dem anscheinend was an den anderen Mitbewohnern im Haus lag.

"Ich bin zu Hause!", rief mein Vater genau in diesem Moment und ich ertappte mich dabei, wie ein Lächeln über mein Gesicht huschte. Am Ende freundete ich mich wirklich noch mit dieser neuen Situation an.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, so schnell würde ich meinem Vater nicht vertrauen. Er hatte sich 12 Jahre nicht bei mir gemeldet, mich sehen wollen oder unterstützt, warum fing er jetzt auf einmal damit an?

"Daddy!", rief in diesem Moment Jolie vom oberen Absatz der Treppe. Mein Herz blieb stehen.

Jolie hatte William als ihren Vater bezeichnet, und das, obwohl er nicht einmal ihr Vater war. Für die Kleine war es so einfach Vertrauen zu fassen. Sie hatte sich in Windeseile in ihr neues zu Hause eingelebt und das Alte wahrscheinlich komplett vergessen. Auch wenn ich das nicht so einfach gelang, so freute ich mich doch sehr für meine kleine Schwester.

Mein Vater kam mit Jolie auf dem Arm in die Küche und zeigte offenkundig, wie überrascht er war, dass sie so schnell Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Allerdings staunte er auch nicht schlecht, als er mich, leibliche Tochter, am Herd stehen sah.

"Kochst du für ... uns?", fragte er zögerlich, während er Jolie absetzte, die aufgeregt umher sprang. Wirklich, sie hatte eindeutig ihr altes Ich wieder gefunden, während ich nicht mal wusste, ob ich jemals so etwas wie ein Ich besessen hatte.

"Ja", antwortete ich schlicht und einsilbig, während ich die, zugegebenermaßen einfallslosen, Spaghetti mit Tomatensoße aus der Tüte auf den Esstisch stellte.

William lobte die ganze Zeit während des Mahls meine Kochkünste und auch ich musste mir eingestehen, dass es irgendwie besser schmeckte, wenn man freiwillig mit anderen zusammen aß und nicht gezwungenermaßen beziehungsweise ganz allein irgendwann nachts einen Käsetoast hinunterschlang.

Nachdem wir zu dritt und ganz familiär den Abwasch erledigt hatten, brachte ich Jolie zu Bett und wollte anschließend noch ein paar Hausaufgaben erledigen. Doch egal wie sehr ich auch versuchte, mich auf die Gleichungen in Mathe zu konzentrieren, immer wieder erwischte ich mich, wie ich darüber nachgrübelte, warum Harry sich heute so merkwürdig verhalten hatte.

Was auch immer es war, was Harry Styles so undurchsichtig erscheinen ließ - es beschäftigte mich.

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Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt