Kapitel 44 / Open your eyes

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Kapitel 44

Harry's POV

In einer Hinsicht war es nicht weiter tragisch, dass Belle außer Damien nicht viele Freunde an der Schule hatte.
Denn so konnte ich wenigstens jeden Nachmittag bis zum Ende der Besuchszeit an ihrem Bett sitzen. Manchmal schlief ich sogar auf dem unbequemen Besucherstuhl ein und wurde irgendwann mitten in der Nacht von einer Schwester geweckt.
Manche hatten mich rausgeworfen, aber andere hatten mir auch eine Decke gegeben. Sie konnten zwar nicht alle ganz einordnen, warum ein älterer Mann an dem Bett einer Siebzehnjähigen wachte, aber ich sah auch nicht danach aus, als ob man mich fragen sollte.

Meine Haare waren unfrisiert und fettig und meine Wangen verlangten schon seit mehreren Tagen nach einer Rasur. Ich wusste nicht, wie lange ich das T-Shirt schon anhatte und konnte nur vage sagen, welcher Wochentag gerade war.
Aber ich war hier bei Belle. Genau da wollte ich sein, denn woanders gehörte ich nicht hin.

Natürlich hatte ich bei meinem Besuch oft Gesellschaft von Jolie und William. Glücklicherweise war der Kleinen nichts passiert bei dem Unfall. Trotzdem schien sie noch ein bisschen traumatisiert zu sein, von dem, was sie gesehen hatte.

Wie der tonnenschwere Zug keine Chance mehr hatte, zu bremsen, bevor er Belle erfasste. Da machte es auch kaum einen Unterschied, dass er ohnehin am Bremsen gewesen war.
Belle war einfach über die Gleise gerannt und hatte den herannahenden Zug nicht gesehen. Den Zug, der sie noch einige Meter mit sich genommen hatte. Der ihr das Bein gebrochen hatte, fast gänzlich abgetrennt hatte und das in einer endlos langen Operation wieder angenäht wurde.
Sie hatte ein krasses Schädel-Hirn-Trauma, unzählige gebrochene Knochen und Blutergüsse.
Kein Mensch wusste, ob sie jemals wieder laufen können würde.
Niemand konnte sagen, ob Belle überhaupt wieder aufwachen würde.
Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte.

Wann immer ich daran dachte, dass Belle ohne diese ganzen Geräte, die ihre Heilung und ihren Körper unterstützten, vermutlich sterben würde, wurde mir schlecht. Sie lag in einem künstlichen Koma und die Ärzte wollten sich noch Zeit lassen, bevor sie den Versuch unternahmen, sie wieder auf zu wecken. Sonst würde sie vor Schmerzen wahrscheinlich direkt wieder ins Koma fallen.
Wenn ihr Kopf eine Reaktivierung überhaupt zulassen würde.

Belle's Dad war während der gemeinsamen Besuchszeit nicht sehr gesprächig. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er auf gar keinen Fall ein Fan von mir war und trotzdem schien er mich am Krankenbett seiner Tochter zu billigen.
Denn immerhin war ich der einzige Mensch, der noch fertiger aussah, als der Mann, der gerade seine Ex-Frau beerdigt hatte, während seine Tochter auf der Intensivstation lag.

Aus der Schule waren nur an einem Nachmittag mal die Leichtathletikmannschaft mit einem Strauß Blumen in der Hand gekommen, der inzwischen verwelkt war.
Damien schaute auch öfters vorbei, wann immer er konnte, aber die Prüfungen fanden in ein paar Wochen statt und auch wenn Damien wahrscheinlich gerne genauso oft bei Belle gewesen wäre, wie ich, war er vernünftig genug, auch ein bisschen zu lernen.

Es war irgendwann an Belle's Bett, als ich aus dem Radio, das im Schwesternzimmer dudelte ein Lied vernahm, das mir sehr bekannt war.

All this feels strange and untrue
And I won't waste a minute without you

Es fühlte sich an wie ein Traum. Ich. Bei ihr. Es fühlte sich so richtig und gleichzeitig so falsch an, wenn wir beide zusammen waren, immer noch.
Aber trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, in diesem Moment woanders zu sein. Wenn ich schon das Gefühl hatte, verrückt zu werden, dann wenigstens an Ort und Stelle, wo ich ihre Hand halten konnte.

My bones ache, my skin feels cold
And I'm getting so tired and so old

Ich saß hier bei Belle und spürte, wie die Angst mich langsam aber sicher von innen her auffraß. Es fühlte sich an, wie eine unglaubliche Kälte. Ich hatte das Gefühl, dass sie wie der Tod umher schlich, und nichts als Tristesse, Alter und Kälte hinterließ. Mit der Zeit wurde mir klamm ums Herz, denn die Angst griff danach.

Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt