Kapitel 19 / Nothings fine, I'm torn

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Kapitel 19

Ironischerweise war das erste das ich tat, nachdem ich das Laufen hingeworfen hatte, laufen.

Ich rannte vom Sportplatz, zuerst an Damien vorbei, dann an den anderen vom Training und schlussendlich an Harry, dem ich keinen Blick mehr schenkte. Ich lief über den Parkplatz, an meinem Auto vorbei, um die Ecke und die Straße hinunter. Ich folgte dem Verlauf der Straße so lange, bis ich abbiegen musste und das machte ich immer so weiter, bis ich irgendwann vollkommen entkräftet und nass geschwitzt an meinem Stein am Strand ankam. Ich keuchte und hustete und fühlte mich, als würde ich gleich sterben, aber das war eigentlich noch nicht genug.

Der Strand war kalt und rau und menschenleer.
Wie lang war ich nicht mehr hier gewesen? Früher, damals, als ich neu in Monterey war, was eigentlich erst ein halbes Jahr her war, da war ich ständig hier gewesen. Hier war der Ort gewesen, wo ich sein konnte, wer ich war, ein einzelnes Individuum, ein Einsiedlerkrebs, vollkommen davon überzeugt, dass ich mit dem Rest der Welt nicht verträglich war.

Aber ich hatte mich geirrt. Ich passte in die Welt, zumindest zu einer Hand voll Menschen, Menschen wie Damien und meinem Vater und Jolie und Harry. Und letzterer hatte mich wieder zu diesem Stein befördert, weil ich ausgerechnet zu ihm am besten zu passen schien.
Weil ich geglaubt hatte, dass es da etwas zwischen uns gab, das ich zwar nicht benennen aber definitiv fühlen konnte.

Und wieder hatte ich mich geirrt. Zwischen Harry und mir war gar nichts, das hatte er mir definitiv klar gemacht. Er hatte mich einfach von sich gestoßen. Ich fühlte mich ein bisschen wie ein nicht angenommenes transplantiertes Organ: Harry wollte mich nicht, sein Körper stieß mich ab.
Aber man hatte mich extra für ihn aus jemand anderem, aus meiner alten Welt und meiner alten Ordnung, gerissen und dorthin konnte ich jetzt nicht mehr zurück.
Ich war irgendwo im Nirgendwo. Ich wusste nicht mehr wer ich war und wer ich sein wollte.

Früher war das Laufen nur Mittel zum Zweck gewesen es war mein Lebensinhalt, denn ohne konnte ich nicht mit Jolie an der Backe überleben.
Dann wurde das Laufen das größte Glück, dass ich kannte, denn es war das Einzige, das ich gut konnte. Harry hatte dieses Glück gesteigert und perfektioniert; er hatte aus dem Rohdiamant einen wertvollen, geschliffenen Brillant gemacht, genauso wie er es prophezeit hatte.
Aber dann hatte auch Harry genau diesen Diamanten wieder zerstört.
Ich fühlte mich, als wollte ich nie wieder laufen und das nicht nur, weil ich bei meinem Sprint durch die Stadt bis weit über meine Grenzen hinaus gegangen war. Ich hatte simpel keinen Grund mehr zu laufen. Es machte mir keinen Spaß mehr, das Glücksgefühl, das ich früher so intensiv verspürt hatte, war stumpf und spröde geworden.

Obwohl es Januar und recht kalt war, stand ich von meinem Felsbrocken auf und lief den breiten Strand nach unten zu den grauen, tosenden Wellen.
Ich wollte wieder etwas anderes fühlen, als diesen ständigen, stechenden Schmerz in meinem Herzen.
Und wenn es nur das erstickende Gefühl von eiskaltem Wasser war.

Ich stand mit meinen Füßen bereits so nah am Meer, dass die Wellenspitzen an meinen Zehen knabberten und ich den süßen, scharfen Schmerz spürte, den das kalte Wasser verursachte.
Es war herrlich, und ich ging einen Schritt weiter. Der Schmerz wurde intensiver und realer.
Noch ein Schritt.
Wie weit würde ich gehen können, bis ich es nicht mehr aushielt? Bis der Schmerz übermächtig würde und meine Glieder lähmen würde?

"Du hast aber nicht vor, da rein zu gehen, oder?", fragte aus heiterem Himmel von hinten eine Stimme. Wie von der Tarantel gestochen, drehte ich mich um und sah Harry's Gesicht; der Wind hatte seine Haare zerzaust doch sein zaghaftes Lächeln ließ sich davon nicht beirren.

Ich antwortete ihm nicht. Warum lächelte dieser Arsch mir eigentlich so dreist ins Gesicht?
Wie eine trotzige Dreijährige - Jolie hätte es mit Sicherheit genauso getan - ging ich noch einen Schritt weiter und grinste Harry dreist ins Gesicht. Das Wasser reichte mir jetzt bis zu den Knien und schon jetzt konnte ich meine Füße nicht mehr spüren.

Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt