Kapitel 37 / Lies over Lies

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Kapitel 37

In der Vergangenheit hatte ich oft das Gefühl gehabt, dass die Nächte gar nicht vergehen würden. Wenn ich vor Hunger nicht schlafen konnte und mich neben Jolie unruhig im Bett herumgewälzt hatte. Oder wenn ich einsam draußen auf der nasskalten Straße stand, um darauf zu warten, dass jemand vorbeikam, der hoffentlich etwas Bargeld bei sich hatte.
Diese Nächte schienen mir immer endlos und ich hatte am Abend schon Horror davor, dass ich es in der kommenden Nacht vielleicht nicht aushalten und daran zugrunde gehen würde.

Doch diese Nacht war wohl die erste Nacht in meinem Leben, zumindest in dem Teil meines Lebens, an das ich mich erinnern konnte, die ich mir gerne als schier endlos gewünscht hätte.
Ich war so unglaublich glücklich darüber, dass Harry nicht der böse Lehrer war, für den ich ihn diese quälend lange Zeit gehalten hatte, dass ich davon überzeugt war, dass ich den Wettkampf am folgenden Tag in halb so kurzer Zeit wie sonst rennen konnte.
Dasselbe, prickelnde Glücksgefühl, das ich schon vom letzten Wettkampflager kannte, hatte wieder Besitz von mir ergriffen und ich wünschte mir eigentlich nur, dass es nie wieder endete.

Aber die Erde drehte sich unaufhaltsam weiter und als sich auf den künstlich angelegten, sanften Grashügeln vor dem Fenster das Morgenrot andeutete, wusste auch ich, dass es an der Zeit war, wieder in die Realität zurück zu kehren. Ich konnte nicht ewig in dem Traumland weiter leben, in dem es nur mich und Harry gab.
In Wirklichkeit gab es da nämlich mich und meinen Lehrer und eine Menge anderer Menschen, die nichts davon wissen sollten, dass wir beide mehr füreinander waren.

Also verabschiedete ich mich von Harry mit einem für mich ganz untypischen Kichern und tapste wie eine Betrunkene zurück in mein Zimmer.
Entweder war ich dabei sehr viel lauter, als beim heraus stehlen oder Sabrina hatte in den frühen Morgenstunden einen seichteren Schlaf, jedenfalls schaffte ich es, meine Zimmerpartnerin zu wecken.

Sie sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Sie erschien mir erstaunlich klar dafür, dass sie doch vermutlich gerade erst aus dem Schlaf gerissen wurde und eine furchtbare Gewissheit machte sich in meiner Magengegend breit: Sabrina wusste, dass ich deutlich länger weg gewesen war, als dass ich es mit einer fadenscheinigen Lüge von einem Toilettenbesuch erklären könnte.

"Wo warst du die ganze Nacht?", fragte sie mit einem pikierten Ausdruck in der Stimme, was meinen Verdacht bestätigte.

Im Gegensatz zu Sabrina's scheinbar bereits messerscharfen Verstand, war mein Gehirn entweder aufgrund der letzten Nacht oder der frühen Stunde zu nicht viel mehr als Einhornzählen zu gebrauchen. Ich zermaterte mir meine graue Zellen nach einer halbwegs brauchbaren Lüge.
Allerdings fand mein Mund den Zugang zur Sprache, bevor mein Gehirn ihn daran hindern konnte, weswegen ich eigentlich nur noch Schadensbegrenzung begehen konnte.

"Ich hab bei ... Damien geschlafen.", ich merkte, wie ich puterrot anlief und hoffte, dass ich es dabei belassen konnte, doch Sabrina, die sonst immer so schweigsam war, schien heute merkwürdigerweise in Redelaune zu sein.

"Seid ihr jetzt zusammen oder was?", sie erhob sich aus dem Bett und stand nun so unvermittelt vor mir, in all ihrer Größe mit ihren knöchernen, endlos langen Beinen, dass ich gar nicht anders konnte, als mich bedroht zu fühlen.

"Äh ... ja?", antwortete ich und schenkte der Tatsache, dass meine Antwort mehr wie eine Frage klang, keine Beachtung. Nervös schaute ich von links nach rechts und merkte, wie sich meine Gesichtsfarbe weiter intensivierte.
Was Sabrina wohl hoffentlich für reine Schüchternheit und nicht eine aufkeimende Panikattacke hielt.

Mein Gegenüber schenkte mir allerdings nur noch ein wissendes Lächeln und wandte sich von mir ab. Sie wühlte in ihrer Trainingstasche herum, während ich wie ein Häufchen Elend zusammengekauert an der Tür stehen geblieben war.

Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt