Kapitel 44
Ich hatte schon einmal von diesen Momenten gehört, in denen man sich selbst von oben betrachtete und die Szenerie, die sich einem bietet, wie in Zeitlupe erlebt. Ganz langsam, sodass kein Detail jemals in Vergessenheit geraten würde.
Genau so ging es mir jetzt.
Ich sah, wie im Himmel sitzend, wie mein Vater sich auf den Sessel gegenüber des Sofas setzte und sein Gesicht in seinen Händen verbarg. Ich könnte schwören, dass mein Vater, der große, starke und erfolgreiche William Rodriguez, den nichts jemals erschüttern könnte, in diesem Moment schlagartig um zehn Jahre alterte.
William's Schultern bebten vor sich hin und er gab erstickte, kehlige Laute von sich. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich begriff, dass mein Dad tatsächlich weinte.
Er weinte um die Frau, die ihn vor zwölf Jahren Hals über Kopf verlassen hatte und sich seitdem nicht einmal gemeldet hatte. Die ihm seine eigene und eine fremde Tochter vermacht hatte, aus heiterem Himmel, weil sie abgerutscht war und ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bekam.
Im Grunde weinte er um eine Frau, für die er jeglichen Grund besaß, sie zu hassen.Aber im selben Augenblick, in dem ich begriff, dass mein Vater weinte, merkte ich auch, dass es ihm genauso ging wie mir selbst. Auch ich hatte eigentlich jeden Grund, meine Mutter zu verachten und mich keine feuchten Kehricht mehr um sie zu scheren und trotzdem liebte ich meine Mum noch immer. Weil es meine Mum war.
Und Dad, der nach Nicole nie länger als ein paar Wochen mit einer Frau ausgegangen war, liebte sie ebenfalls noch. Weil sie die Liebe seines Lebens war und blieb.Nur weil ein Mensch nicht mehr der Mensch ist, mit dem wir einst unser Leben verbracht haben, heißt es nicht, dass man diesen Menschen, diese Erinnerung, nicht mehr liebt.
Von oben sah ich, wie ich selbst stocksteif auf dem Sofa saß. Ich sah und merkte, dass Harry sich ebenfalls versteift hatte. Er hatte keine Ahnung, was er tun oder sagen sollte. Wahrscheinlich kam er sich in diesem Moment vor, wie ein Eindringling in unserer kleinen, familiären Runde.
Aber für mich gehörte Harry mit zur Familie. Er war mir mehr Familie gewesen, als viele anderen eine ganze Weile lang. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er in diesem Moment nicht bei mir sein sollte. Das wäre unnatürlich, denn immerhin war er doch ... Harry. Mein Harry.Ein bisschen fühlte ich mich, als hätte mich jemand geschlagen. Fest und hart, gegen den Kopf, volle Breitseite. Ich hörte ein Dröhnen in den Ohren, ein Rauschen und ich wünschte mir fast, dass ich wieder in Ohnmacht fallen würde, weil das beim letzten Mal alles so viel einfacher gemacht hatte.
Ich wollte nur schlafen, in ein Stadium fallen, in dem ich nichts mehr spüren konnte, und erst aufwachen, wenn alles vorbei war. Wenn ich den Schmerz nicht mehr spüren konnte.Es erschien mir wie eine Ewigkeit, wie wir drei beisammen saßen, alle drei in unseren verschiedenen Haltungen eingefroren. Noch immer schien Dad keine Notiz von Harry zu nehmen, oder er wollte sie nicht nehmen. Wahrscheinlich war es ihm egal.
Seine Frau war vor wenigen Stunden gestorben. Natürlich war es ihm egal.Nach einem Teil dieser Ewigkeit, vernahm ich die Stimme meines Dads. Sie war leise und fistelig und rau. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, wahrscheinlich hatte er mehr als die Hälfte der Zeit geschrieen und geweint. Und trotzdem fand er noch die Kraft, zu sprechen.
"Sie haben heute Nacht um vier die Geräte ausgeschaltet.", sagte er mit dieser neuen Stimme, die er jetzt hatte. "Das Gehirn hat aufgegeben und sie hat so unglaublich viel Blut verloren. Da war so viel Blut -"
Er musste abbrechen, denn seine Stimme versagte ihm nun vollends den Dienst.Heute Nacht um vier. Da hatte ich, wahrscheinlich seelenruhig, auf dem Sofa gelegen und geschlafen.
Hätte ich es nicht irgendwie merken müssen? Merkte man es nicht, wenn die eigene Mutter starb? Ich hätte doch sicher so etwas wie einen Stich im Herzen spüren müssen. Warum hatte ich das nicht getan?
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Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)
FanfictionMan dachte, man würde Belle einen Gefallen damit tun, sie zu ihrem Vater in die Sonne zu bringen, nachdem sie in ihrem alten Zuhause so viel Hässliches miterleben musste. Doch niemand hatte Belle nach ihrer Meinung gefragt und niemand schien sich au...