Kapitel 41 / Darkest hour

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Kapitel 41

Der Satz hatte auf mich gewirkt wie eine Ladung Eiswasser, die man mir durch sämtliche Venen und Arterien gejagt hatte. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Rücken, während ich gleichzeitig das Gefühl hatte, in Flammen zu stehen. Mein Hals wurde trocken, sodass ich erst zweimal schlucken musste, ehe ich meinem Vater antworten konnte.

"Was?", krächzte ich heißer und mehrere Oktaven zu hoch ins Telefon.

Bilder meiner Mutter überfluteten mein inneres Auge. Echte Erinnerungen und Horrorszenarien vermischten sich dabei zu einem unschönen Brei, der mir mehr als Angst einjagte.
Meine Mutter, wie sie betrunken und orientierungslos auf der Türschwelle unserer winzigen Wohnung zusammengesunken war.
Meine Mutter, grün und blau geschlagen, von einem der Männer, denen sie viel zu leichtfertig vertraut hatte.
Meine Mutter, ganz allein in einem dunklen Zimmer, bewusstlos und dem Tod nahe, weil sie die unerträglichen Schmerzen mit Tabletten besänftigen wollte.

Wieder musste ich schlucken, aber dieses Mal, um die Tränen zurück zu halten.

Es war schon komisch. Eigentlich machte ich diese Frau für alles verantwortlich, was Jolie und ich jahrelang hatten durchstehen müssen und trotzdem beunruhigte mich die Nachricht, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, so sehr, dass ich das Gefühl hatte, den Verstand zu verlieren.
Niemals hätte ich vermutet, dass ich nach so vielen Jahren des Leids noch so viel Zuneigung für meine Mutter übrig haben könnte.

"Ich habe gestern Abend einen Anruf aus Seattle erhalten. Anscheinend bin ich immer noch Nicole's Notfallkontakt und deswegen hat man mich nach drei Tagen Suche endlich in Monterey ausfindig gemacht und angerufen.", begann mein Vater zu erklären. Am Telefon klang seine Stimme, als wäre er ein alter und gebrochener Mann. Aber eigentlich musste er doch mein starker Vater sein, den nichts umhauen konnte?

Wenn schon William Rodriguez am Boden zerstört zu sein schien, was konnte dann nur passiert sein? Nicole, meine Mutter hatte ihn mit mir im Schlepptau vor zwölf Jahren verlassen, damals war ich gerade einmal fünf Jahre alt gewesen. Als ich nach Monterey zurück gekehrt war, hatte ich kaum mehr als eine vage Erinnerung an meinen Vater gehabt, also wie viel Erinnerung konnte er schon noch an meine Mutter haben?
Eine Frau, für die er allen Grund hatte, sie aus seinem Gedächtnis zu streichen und für immer zu hassen?

Und trotzdem war er nach Seattle geflogen, weil er noch immer ihr Notfallkontakt war. Ohne zu zögern.
Liebte William Nicole am Ende auch immer noch? Konnte man bei manchen Menschen eigentlich aufhören, sie zu lieben?

Nein, konnte man nicht, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte Harry für kurze Zeit für einen fiesen, Schulmädchen ausnutzenden Pädophilen gehalten und trotzdem hatte ich keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich ihn liebte. Das war ja der Grund dafür, dass es so weh tat.

So wie das immer der Grund war, wenn andere Menschen dabei waren, ihren Liebsten Leid zu zu fügen. Es tat nur so sehr weh, weil man von der Person, die man liebt, niemals etwas derartiges erwartet hätte.

"Aber, Dad, warum Notfallkontakt?", kiekste ich panisch und versuchte aufgeregt, meine Stimme zu dämpfen, damit Jolie in ihrem Bettchen oben nicht wach wurde. Nur weil bei dem Rest der Familie gerade anscheinend der Notstand ausgerufen wurde, würde ich dennoch alles dafür tun, dass meine kleine Schwester weiterhin selig schlafen konnte.
Selig und unbekümmert. "Was hat das alles zu bedeuten?"

Ich hörte, wie mein Vater am anderen Ende der Leitung tief Luft holte, bevor er antwortete.
Das war nie ein gutes Zeichen. Wenn Menschen tief Luft holten, bevor sie sprechen, dann waren sie nervös. Entweder, weil sie eine bedeutende Rede halten mussten, oder, weil sie etwas sagen mussten, das für alle Beteiligten als unbequeme Wahrheit galt.

Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt