Kapitel 9 / Homesick

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Kapitel 9

"Dad!", rief ich durchs Haus während ich die Treppe hinunter rannte. Das Wort fühlte sich immer noch merkwürdig im Mund an, fast wie ein Fremdwort. Ich hatte schon fast Angst, dass ich es vielleicht falsch aussprach. "Daaaad!"

Nachdem ich meinen Vater weder im Schlafzimmer, noch in der Küche oder im Wohnzimmer gefunden hatte, blieb mir nur noch die Garage übrig, wo er tatsächlich über dem roten, rostigen Wagen hing, dessen Motorhaube geöffnet war.

Er schaute nach den durchtrennten Kabeln.

Ich hatte William erst am Vorabend gebeichtet, was mit seinem alten Auto passiert war, doch zu meiner Überraschung wirkte er weniger sauer und eher besorgt. Als würde es ihn wirklich beunruhigen, dass seine Tochter vielleicht gemobbt wurde.

"Guten Morgen", begrüßte mein Vater mich und lächelte, doch das Lächeln erstarb schnell wieder. "Tut mir leid, aber den Wagen bekomm ich leider nicht alleine hin, der muss in die Werkstatt. Da haben die Leute an der Schule ganze Arbeit geleistet." Seine Stirn zog sich in Falten und mein schlechtes Gewissen wegen der Sache stieg ins Unermessliche.

"Schon okay, Dad.", sagte ich schnell. "Es tut mir wirklich so leid. Das nächste Mal mach ich ein Vorhängeschloss an die Motorhaube."

Daraufhin musste mein Vater unwillkürlich lachen, legte einen Arm um mich und führte uns zusammen in die Küche, wo der Frühstückstisch bereits gedeckt war. Wir setzten uns gerade, als die kleine Jolie die Treppe hinunterstolperte, mit ganz verschlafenen Augen und ihrem Lieblingshasen im Schlepptau.

Allerdings krabbelte sie nicht wie sonst auf den Stuhl neben meinem, sondern auf meinen Schoß, wo sie ihre kleinen Ärmchen um mich schlang.

"Ich will nicht, dass du gehst.", nuschelte sie in meinen Bauch.

Ich musste unwillkürlich lächeln und streichelte dem Zwerg auf meinem Schoß über den Kopf. "Ich will doch auch nicht ohne dich gehen.", sagte ich leise. "Aber ich muss. Und ich wette, ich vermisse dich dabei viel, viel mehr, als du mich."

"Niemals!", protestierte Jolie und funkelte mich dabei böse an. Niemals konnte ich sie mehr vermissen als andersherum. So was durfte ich gar nicht erst denken.

"Aber schau doch mal, hier hast du William, der sich extra frei genommen hat, um mit dir wieder in den Tierpark zu gehen. Und es ist sogar vielleicht warm genug, um eine Sandburg am Strand zu bauen, das macht dir bestimmt Spaß.", erst jetzt fiel mir auf, dass meine kleine Schwester im Gegensatz zu mir selbst noch nie am Meer gewesen war. Es betrübte mich, dass ich diese Möglichkeit nicht vorher hatte, zu verreisen und Spaß zu haben, wie andere Kinder in meinem Alter auch.

Bei den ganzen Möglichkeiten, die ich ihr auflistete, begannen Jolie's trotzige Augen mit einem Mal an zu leuchten. Ich lächelte sie aufmunternd an.

Das Frühstück fiel wegen der Diskussion etwas spärlicher aus, als üblich, aber auch zum großen Teil deswegen, weil ich William noch mal haarklein erklärte, wie er mit Jolie während ihrer Abwesenheit umzugehen hatte.

"Vergiss nicht, ihr abends etwas vorzulesen oder zu singen. Sonst schläft sie nicht gut ein. Und wenn sie mich vermisst, dann gib ihr den zerkauten Schmusehasen in meinem Bett, der erinnert sie an mich. Und denk dran, keine-"

"Keine Süßigkeiten zwischendurch, ich weiß schon.", mein Vater lächelte mich sanft an. Ein bisschen Kummer lag in dem Lächeln, Kummer, den ich sehen konnte, und bei dem ich mir denken konnte, dass er davon herrührte, dass er nicht seine eigene Tochter so aufziehen konnte. "Du brauchst keine Angst haben, ich glaube kaum, dass ich es schaffen werde, sie innerhalb von zwei Tagen verwahrlosen zu lassen."

Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt