Kapitel 38 / Responsibilities

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Kapitel 38

Das erste, das ich nach meinem Lauf sah, waren die Gesichter von Damien und Harry. Auf beiden spiegelte sich dieselbe Mischung aus Unglauben und ... Enttäuschung wider. Ich musste schlucken. Wann genau war es eigentlich dazu gekommen, dass die beiden fest damit rechneten, dass ich immer alles gewann?

Mit einem Mal machte sich eine ungeahnte Wut in meinem Inneren breit. Genau das war doch immer der Grund gewesen, warum ich nie irgendeinen Menschen an mich heran gelassen hatte: Weil diese Menschen dann immer Dinge von mir erwarteten. Dinge, die ich nicht erfüllen konnte, weil ich schon seit meiner Geburt eine einzige menschliche Enttäuschung war.
Und jetzt hatte ich diese dämliche Verantwortung auferlegt bekommen, niemanden vor den Kopf zu stoßen und dabei war ich jämmerlich gescheitert.

Ich sah, wie die anderen auf mich zu kamen. Ich konnte die Leute auf den Rängen sehen, die sich desinteressiert von mir abwandten und ihre Sachen zusammen packten.
Aber ich wollte niemanden sehen. Keine Menschenseele.

Also machte ich, was ich eigentlich am Besten konnte. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ich hatte keine bestimmte Richtung im Sinn und wusste auch nicht, wie lang ich am Ende gelaufen war, aber irgendwie schienen meine Beine mich wie automatisch zum Meer getragen zu haben. Ich stand am Strand irgendeines Stadtteils der riesigen Metropole Los Angeles und atmete tief durch.

Der Strand war alles andere als verlassen, aber trotzdem scherte sich niemand um das durch geschwitzte Mädchen, das ganz allein dort stand, wo Erde und Meer sich begegneten.
Man ließ mich in Ruhe. Jeder gewährte mir die Freiheit, das zu tun, was ich im Begriff war zu tun und niemand scherte sich darum.
Fast schon hatte ich es vergessen, wie sich diese Großstadtanonymität anfühlte.

Aber als ich so dastand und auf das Meer hinaus schaute, merkte ich, dass mir diese Anonymität nicht mehr das gab, was ich früher so sehr geschätzt hatte. Früher war ich niemandem Rechenschaft schuldig. Das Einzige, worum ich mich jemals kümmern musste, war Jolie gewesen und vor ihr musste ich nie beweisen, dass ich etwas besonders gut konnte. Für die Kleine war ich schon die Heldin, wenn sie ich Leckeres zum Abendessen auf den Tisch stellen konnte.

In den letzten Monaten hatte sich das geändert. Ich hatte es nie gewollt - so viel war sicher - aber ich hatte Verantwortung übernommen. Für mich und für Jolie. Ich hatte Menschen in mein Leben gelassen, die davon ausgingen, dass man sich auf mich verlassen konnte. Mein Vater, Damien, Harry. Mir war das gar nicht richtig bewusst geworden, aber aus dem jugendlichen, rebellischen Mädchen wurde eine verantwortungsbewusste, junge Frau, die sich von ihrem störrischen Kopf losgesagt und lieber den richtigen Weg gewählt hatte.

Und wahrscheinlich war genau das der Grund, weswegen ich mich jetzt so ärgerte. Dass dieser Prozess mit mir vorgegangen war, ohne dass ich die leiseste Notiz davon genommen hatte. Dass mir schlagartig klar geworden war, dass es nun Menschen in meinem Leben gab, die ich nicht enttäuschen wollte und genau das getan hatte.

So sehr ich mein altes Leben in meiner scheiß-egal Anonymität vielleicht auch gemocht hatte, ich musste mir eingestehen, dass es jetzt ein für alle Mal vorbei war damit. Ich hatte mich entschieden, für ein Leben mit Freunden und Familie und diese waren mir wichtiger, als alle Unabhängigkeit der Welt.

Und genau deswegen war es jetzt an der Zeit, dass ich mich für mein Verhalten entschuldigte und es wieder gut machte.

Als ich zurück ins Trainingslager kam, gingen bereits die Laternen an und rund um mich herum war es stockfinster. Mit traurig knurrendem Magen musste ich feststellen, dass das Licht in dem großen Speisesaal bereits ausgeschaltet war und ich somit ohne Abendessen zu Bett gehen müsste. Aber vielleicht war das die Strafe für meinen leichtsinnigen Ausbruch.

Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt