Kapitel 35
Erst vor kurzem hatte ich mir einen Kalender zugelegt, besser gesagt, mein Vater hatte einen dieser grausam kitschigen Familienplaner angeschleppt, bei denen jedes Familienmitglied seine eigene Spalte hatte. Und seitdem trug er penibel, wie ein Vorstadtvater es zu sein hatte, jeden Termin in diesen Kalender ein, ob es nun eine seiner wichtigen Sitzungen, ein Fest im Kindergarten oder einer der seltenen Termine in meinem Leben war.
Als ich an diesem Morgen vor dem Kalender stand, bemerkte ich, dass der letzte Eintrag in meiner Spalte die SATs gewesen waren. Wie nicht anders vorhergesehen, war ich mit einem miserablen Gefühl aus der Prüfung gegangen, denn nach dem furchtbaren Vorfall in der Bibliothek hatte ich mich noch weniger aufs Lernen konzentrieren können, als sowieso schon. Zumindest dann, wenn ich mich überhaupt aufraffen konnte, überhaupt in ein Buch zu schauen, denn eigentlich verbrachte ich seither meine Freizeit damit, aus dem Fenster zu starren. Und manchmal weinte ich, aber nur wenn ich der Überzeugung war, dass mich niemand dabei erwischen würde.
Immerhin konnte ich ja niemandem den Grund sagen.Ich wusste, dass eigentlich jeder andere Mensch, jedes vernünftige Mädchen, wenigstens zur Schulleitung gegangen wäre, um den Vorfall zu melden. Ich ging davon aus, dass die derzeitige Schulleiterin von dem Vorfall an Harry's alter Schule wissen musste, und überhaupt: Wurden wir seit der Versteigerung nicht ohnehin als Lehrer-Schüler-Paar verdächtigt?
Es wäre ein leichtes, die Geschichte glaubhaft zu erzählen, und Harry damit zu schaden. Es wäre nur fair, nur rechtens, nach allem, was er mir angetan hatte, indem er kein Wort über seine Vergangenheit verloren hatte.Das Problem war nur, dass ich genau das nicht wollte. Ich wollte ihm nicht das wegnehmen, das ihm so gut lag, denn obwohl er mein Herz zertrümmert hatte, musste ich immer noch zugeben, dass Harry ein fantastischer Trainer und Lehrer war. Und wie groß war die Chance, dass er nach zweimaligen Vorwürfen von sexueller Belästigung Minderjähriger wieder eine Stelle bekommen würde?
Und was würde es mir nutzen, ihm zu schaden? Es würde mich auch nicht dazu verhelfen, die ganze Sache zu vergessen, denn das würde ich niemals können. Ich liebte Harry - und zwar unwiderruflich.
Wenn ich je einen Beweis dafür gesucht hatte, dass ich anders war, als all die Teenager um mich herum, dann hatte ich ihn spätestens jetzt: Normale Teenager verliebten sich ständig, jede Woche und trennten sich dann genauso schnell und herzzereißend wieder.
Irgendwie war ich da anders. Vielleicht weil ich selbst nie viel Liebe erfahren hatte, aber diejenigen, die es erst einmal in mein Herz geschafft hatten, und das waren weiß Gott nicht viele, bekam ich dort auch nicht mehr heraus.Der Grund, aus dem ich jetzt allerdings wie paralysiert auf den Kalender starrte, während mein Vater versuchte, Jolie dazu zu bewegen, sich endlich ihre warme Jacke anzuziehen, war ein Ereignis, das in gerade einer Woche stattfinden würde.
Die Landesmeisterschaften.
Ich erinnerte mich daran, wie ich mit Harry darüber gesprochen hatte, damals bei dem Spendenlauf, und konnte es kaum glauben, dass das gerade einmal eine Woche her war. Aber hier im Kalender stand es, schwarz auf merkwürdig-orange-gelb: Die Landesmeisterschaften fanden dieses Wochenende in Los Angeles statt.Zwar hatte ich am gestrigen Montag am Mannschaftstraining teilgenommen, allerdings war ich dabei so mies wie schon lange nicht mehr gelaufen. Ich wusste ganz genau, dass ich in meiner momentanen Verfassung niemals in der Lage war, einen anderen Platz als den allerletzten bei der Meisterschaft zu belegen.
Allerdings schien Harry meine Leistung diese Woche fast so egal zu sein, wie mir so ziemlich alles, denn er verlor nicht eine einzige Silbe dazu. Generell schien er mit mir umzugehen, als wäre ich ein Geist, also um genau zu sein, nicht existent.
Ich wusste, dass Damien zu ihm gegangen war, nachdem er mich am Samstagabend nach Hause gebracht hatte, allerdings war Damien ziemlich schleierhaft gewesen, bei dem was, die beide miteinander geredet hatten.
Aber scheinbar war das Ergebnis gewesen, dass Harry es für das beste hielt, mich weitestgehend zu ignorieren.
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Liebe kennt keine Grenzen (Abgeschlossen)
FanficMan dachte, man würde Belle einen Gefallen damit tun, sie zu ihrem Vater in die Sonne zu bringen, nachdem sie in ihrem alten Zuhause so viel Hässliches miterleben musste. Doch niemand hatte Belle nach ihrer Meinung gefragt und niemand schien sich au...