Solange du gebraucht wirst, stirbst du nicht

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„Hörst du was?"

„Nein, du?"

„Nicht wirklich."

„Warte!"

„Hörst du jetzt was?"

„Ich glaub, Harry hat gehustet."

„Das ist nicht wirklich weltbewegend, Grace."

„Es ist mehr als du hörst!"

Ein frustriertes Brummen dringt aus meinem Mund, während ich versuche, zu verstehen, worüber die Jungs da drinnen hinter der Tür zu Simons Büro sprechen. Als sie gesagt haben, dass Grace und ich mitkommen können, habe ich ehrlich gedacht, dass wir bei dem Gespräch dabei sein würden. Doch Fehlanzeige. Stattdessen stehen wir vor Simons Büro und werden von allen Angestellten angeschaut, als würden wir ein Verbrechen begehen. Ja, ich weiß, man sollte nie und unter keinen Umständen lauschen, aber eigentlich sollte man auch nicht bei jemandem auftauchen und fragen, ob dieser jemand zufällig eine Band wieder zusammenbringen will. Was auch immer in diesen vier Wänden besprochen wird, es muss wirklich interessant sein, immerhin sind die Jungs da schon länger als 20 Minuten da drinnen. „Was macht ihr da?", Ertappt fahren Grace und ich herum und blicken in Maddies irritiertes Gesicht. Ihre Haare sind zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt und ihre beigen Lackpumps passen perfekt zu den pinken Blazer, den sie über ein weißes Shirt mit Aufdruck trägt. Wie kann man eigentlich so perfekt aussehen, unfassbar nett sein und dann für einen Deppen wie Simon Cowell arbeiten? Irgendwas stimmt in dieser verdammten Welt doch nicht. „Wir lauschen nicht, falls du das denkst.", sagt Grace sofort und lächelt unschuldig.
Maddie verschränkt die Arme vor der Brust und zieht eine Augenbraue nach oben.
„Leute, ihr könnte Simon nicht einfach belauschen. Das ist moralisch völlig verwerflich."
Seufzend schaue ich sie an.
„Tut uns leid, aber die Jungs sind da drin und entweder ist es ein gutes Zeichen, dass sie noch nicht rausgekommen sind oder aber da drinnen findet ein Mord statt und sie überlegen gerade, wie sie Simons Leiche am besten verschwinden lassen, ohne dafür ins Gefängnis zu gehen."
Maddie hebt die Hand, um mich zum schweigen zu bringen. „Warte. One Direction sind da drinnen?"
Langsam nicke ich.
„Ja, sie haben es sich überlegt und wollen doch-"
„Platz da!" Völlig überrumpelt von Maddies plötzlichem Sinneswandel, trete ich zurück, als sie sich zwischen Grace und mir stellt und ihr Ohr gegen die Tür drückt. Als sie merkt, dass sie nichts versteht, schnappt sie sich ein leeres Glas vom Servierwagen des Typen, der an uns vorbei geht, und  hält es an die Tür, bevor sie ihr Ohr dagegen presst.
Grace und ich tauschen verwirrte Blicke.
„Hast du nicht gesagt, das wäre moralisch verwerflich?", fragt Grace und verschränkt die Arme vor der Brust. Maddie sieht zwischen uns hin und her.
„Bei euch ist es moralisch verwerflich. Aber ich arbeite hier. Simon zu belauschen ist quasi mein Job."
„Inwiefern ist Simon belauschen denn Teil einer Assistentenposition?", frage ich spöttisch.
Maddie lässt von dem Glas ab und blickt mich an.
„Willst du mir gerade wirklich meinen Job erklären?"
Abwehrend hebe ich die Hände. Als sich plötzlich die Tür öffnet, Schrecken wir alle drei zurück und blicken in völlig verwunderte Gesichter.
„Was veranstaltet ihr denn da?", fragt Simon sichtlich irritiert und sieht zwischen uns hin und her. Die Jungs hingehen sehen so aus, als würden sie sich nicht einmal wundern, dass wir so nah an der Tür standen. Bevor jemand von uns etwas sagen kann, drückt Maddie mir das leere Glas in die Hand und rückt ihre Brille zurecht.
„Gar nichts. Die beiden haben versucht zu lauschen. Ich habe sie erwischt und versucht aufzuhalten.", stammelt sie nervös und setzt ein falsches Lächeln auf.
Ungläubig öffnen Grace und ich unsere Münder. Also dass das eine bodenlose Frechheit ist, das muss ich nicht erwähnen, richtig?
„Und alle sagen immer, ich sei verrückt.", flüstert Grace mir zu. „Ich würde wenigstens zugeben, dass ich gelauscht habe."
Recht hat sie.
„Also, da wir eh alle hier stehen.", beginne ich räuspernd und trete von einem Fuß auf den anderen. „Wie ist es gelaufen?"
Keiner der Angesprochenen meldet sich zu Wort. Stattdessen schweigen sie und vermeiden es, mich auch nur anzusehen. „Klasse! Das scheint ja richtig gut gelaufen zu sein."
„Spar dir den sarkastischen Unterton.", wirft Niall ein und spielt mit dem Schlüsselbund in seiner Hand.
„Bleibt mir denn noch was anderes außer meinem Sarkasmus?"
„Caitlyn, könnte ich Sie kurz in meinem Büro sprechen.", meldet sich Simon plötzlich zu Wort. „Es dauert auch nicht lange."
Völlig überrascht starre ich ihn an. Früher oder später musste es ja zu einem Showdown kommen. Mir wäre später zwar lieber gewesen, aber wie heißt es so schön? Das Leben ist nunmal kein Wunschkonzert. „Klar.", murmle ich leise und folge Simon in das Büro. Als hinter mir die Tür zufällt, hoffe ich, dass Harry ganz viel betet und dass Gott oder Jesus oder wer auch immer ihn erhört.

~

Ich habe wirklich mit allem gerechnet. Damit, dass Simon mich zusammenfaltet, weil ich das auch getan habe und die ganze Welt es sehen konnte. Damit, dass er mir mit einer Klage droht, weil ich durch die Aktion seinen Ruf ruiniert habe. Damit, dass er mir sagt, dass die Sache mit One Direction sich erledigt hat und er mich nie wieder um Hilfe bitten wird. Aber sicher nicht damit, dass er mir einen Scheck über 15.000 Pfund vor die Nase legt. Immer noch starre ich auf das kleine Stück Papier, das meine ganze Zukunft verändern könnte, wenn ich heute noch zur Bank gehe und ihn einlöse. Ist das ein Trick? Will er mich in eine Falle locken? Soweit ich von den Jungs gehört habe, ist Simon skrupellos und unberechenbar. Da liegt sowas doch nahe, nicht?
„Was ist das?", wage ich endlich zu fragen. Ich verfluche meine Stimme dafür, dass sie gerade so unfassbar piepsig klingt.
„Das war Teil des Deals.", sagt Simon und formt seine Hände zu einem Dreieck, während er sich entspannt zurücklehnt. „Sie helfen mir mit den Jungs und im Gegenzug bekommen Sie das Geld für Ihr Studium."
Heilige Maria Mutter.
„Aber ich hab meinen Teil des Deals nicht eingehalten.", merke ich an und kneife die Augen zusammen.
„Teil des Deals war, dass Sie mir dabei helfen, die Jungs wieder zusammenzubringen."
Was will er mir damit sagen? Sind die Jungs etwa....
„Ich wollte, dass sie wieder Freunde werden. Und wie ich sehe, haben Sie das ganz gut hinbekommen."
Für einen Moment dachte ich wirklich, dass die Jungs wieder zusammen Musik machen wollen. Tja, zu früh gefreut, schätze ich. „Nehmen Sie das Geld und erfüllen Sie sich damit ihren Wunsch."
„Mr Cowell, was haben Sie mit den Jungs besprochen?", frage ich zaghaft und bin gespannt auf die Antwort. Simon lehnt sich nach vorne und seufzt leise.
„Ich habe versprochen, dass alles, was wir besprochen haben, in diesem Büro bleibt."
„So gesehen würde es das Büro ja nicht verlassen, also..."
Simon beginnt leise zu lachen.
„Sie sind wirklich bemerkenswert, Caitlyn." Simon lässt die Hände auf dem Schreibtisch liegen, der mir nie gigantischer vorgekommen ist als in diesem Moment. „Ich verstehe, was die Jungs an Ihnen finden."
„Wie bitte?" Entsetzt öffne ich den Mund. Was soll das denn wieder heißen?
„Sie sind ziemlich clever. Oxford wird sich freuen mit Ihnen zusammenzuarbeiten."
„Ich kann den Scheck nicht annehmen.", sage ich schließlich. „So sehr ich mir auch wünsche, auf diese Universität zu gehen, ich habe es nicht geschafft, die Jungs wieder zu einer Band zu machen. Und so wie Sie aussehen, hassen die Jungs Sie noch immer."
„Da mögen Sie recht haben." Simon lehnt sich wieder zurück in seinem Chefsessel und überschlägt die Beine. „Sie werden noch eine ganze Weile sauer auf mich sein. Und möglicherweise sind sie nicht bereit, wieder zusammen Musik zu machen. Aber... Sie haben etwas geschafft, das sonst niemand zuvor hinbekommen hat. Sie haben die Jungs wieder zu einer Einheit gemacht. Nicht als Band. Als Freunde, Brüder. Und offenbar liegt den Jungs was an Ihnen, Caitlyn. In den letzten Wochen sind Sie eine Freundin für sie geworden. Und ob Sie es glauben oder nicht, mehr hab ich mir nicht gewünscht. Deshalb haben Sie den Scheck auch verdient. Die Jungs brauchen Sie. Denken Sie nicht, dass es jetzt vorbei ist."
Sprachlos blicke ich zwischen Simon und dem Scheck hin und her. Letztendlich stecke ich ihn ein und erhebe mich von meinem Stuhl, nur um mich umzudrehen und zur Tür zu marschieren. Ehe meine Hand die Klinke berührt, drehe ich mich noch einmal zu Simon um. Er hat eine Brille aufgesetzt und hat sich wieder ein paar Unterlagen gewidmet. „Mr Cowell?" Simon hebt den Kopf und sieht mich erwartungsvoll an. „Vielleicht haben Sie recht damit, dass die Jungs mich brauchen." Simon greift nach seiner Brille und nimmt sie ab, als könne er mich dadurch klarer sehen. „Aber das Ding ist, ich brauche die Jungs auch."
Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen.
„Daran habe ich keinen Zweifel."
„Vielleicht brauche ich sie mehr als sie mich."
Simon nickt langsam, ehe er seine Brille wieder aufsetzt und sich wieder seinen Unterlagen widmet.
„Dieses Gefühl kenn ich."
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich hinter seine Fassade blicke. Und da fällt bei mir der Groschen. Es waren nie die Jungs, die Simon gebraucht haben. Sie wären auch ohne ihn berühmte Musiker geworden. Viel mehr ist es Simon, der diese Jungs gebraucht hat. Das wird mir jedoch erst klar, als ich sein Büro auch schon wieder verlassen habe.

All Over Again (Teil 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt