Kapitel 6

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Yvaine

Noch nie habe ich mich weggeschlichen. Noch nie in meinem Leben habe ich mich Vater so sehr widersetzt. Noch nie bin ich mit einem Jungen... Mann - wie auch immer - so spazieren gegangen.

Und jetzt... Jetzt tue ich alles gleichzeitig.

Verdammt. Ich werde sowas von in irgendeinem Kerker landen. Ich bin mir sicher, dass Vater irgendwo einen hat bauen lassen, falls seine Tochter – oder sonst jemand – aus der Reihe tanzt und ihm nicht länger gehorchen will. Zuzutrauen wäre es ihm jedenfalls.

Mit verschränkten Händen hinter meinem Rücken, gehe ich die Straße entlang zu Aurelias Haus. Neben mir Wesley. Er scheint ein wenig angespannt zu sein, aber er versucht es so gut zu verstecken, wie er nur kann. Trotzdem bemerke ich es.

Ich weiß nicht viel über die Körpersprache eines Menschen, aber ich kann ihm deutlich ansehen, dass er sich unwohl fühlt. Ob es an mir liegt oder an der Gesamtsituation. Keine Ahnung.

Alles was ich weiß ist, dass ich diese seltsame Stimmung irgendwie ändern möchte. Möchte Fragen stellen, ohne ihn gleich zu verschrecken. Ich kann mir vorstellen, dass er es nicht gewohnt ist in so einer Gegend zu sein. Und – laut Raze – schon gar nicht unter Menschen, die er nicht kennt.

Mit einem Seitenblick schaue ich zu ihm, während seiner starr nach vorne gerichtet ist.

Ah was soll's.

»Also«, beginne ich langsam und lenke seine Aufmerksamkeit gleich auf mich. Da ist auch schon wieder dieser seltsame Schauer, der mich überkommt, sobald seine Augen auf meine treffen. Was soll das?

»Man merkt dir sofort an, dass du es hasst hier zu sein. Und trotzdem hast du dich dazu entschlossen dieses Viertel zu betreten.«

Er zuckt mit den Schultern. »Wie gesagt, ich tue das für Lilly.«

»Ihr scheint euch sehr nahe zu stehen.«

»Natürlich. Sie ist meine Schwester«, schnaubt er, als wäre es selbstverständlich. »Hast du-«

»Einzelkind«, fahre ich ihm gleich ins Wort und hebe meinen Zeigefinger nach oben, um es noch einmal zu verdeutlichen.

»Verstehe. Aber sollte man nicht als Einzelkind verwöhnt werden, bis einem schlecht wird?«

Nun... Ein bitteres Lächeln macht sich auf meinen Lippen breit, doch ich breche den Blickkontakt nicht ab. Ich darf mich nicht schwach zeigen. »In meiner Familie läuft das Ganze ein wenig anders.« Sehr viel anders.

Dann schüttele ich den Kopf, um die ebenso bitteren Gedanken zu stoppen, die sich gerade in mir aufzustauen beginnen. »Aber genug von mir«, sage ich und grinse weiter.

Wesley beginnt schnell zu verstehen und konzentriert sich wieder auf die Straße. »Ja. Wir verstehen uns gut.« Mehr sagt er allerdings nicht.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es da etwas gibt, ein quälendes Monster, das unter dieser harten Oberfläche lebt. Ich kann es deutlich an dem Ausdruck seiner Augen erkennen. Da ist kein Glanz, nur abgestumpfte braune Augen, die in der Nacht besonders dunkel und gefährlich aussehen. Ich kann es erkennen, weil es in mir selbst solch ein Monster gibt. So eins, vor dem sich sonst kleine Kinder fürchten. Sich davor fürchten, dass sie aus ihrem Kleiderschrank oder unter dem Bett hervorspringen und sie mit Haut und Knochen verzehren.

»Außerdem scheint sie Aurelia ganz gut leiden zu können«, fügt er nach kurzer Zeit hinzu und ich muss wieder lächeln.

Scheint so, als würde er diese Stille selbst nicht mögen. Hätte ich jetzt echt nicht von ihm geglaubt.

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