Chapter 22

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Es war Donnerstag früh. Sechs Uhr. Heute war der Tag gekommen, an dem ich mich endlich dazu überwinden musste, alles auf eine Karte zu setzen.
Noch wusste niemand von meinem Plan. Nicht einmal Patricia, der ich erst morgen in der Bar von Iris erzählen wollte. Oder es mir zumindest vorgenommen hatte.
Die Tage in der Uni hatten mir gutgetan. Man konnte zwar nicht richtig von Tagen sprechen, es waren ja nur der Dienstag und der Mittwoch gewesen, dennoch hatten mich die Stunden der Normalität wieder zurück in die Realität katapultiert und ich hatte wieder mit all meinen Freunden gesprochen, die sich wohl wirklich Sorgen um mich gemacht hatten.
Ich hatte sogar mit Vanessa über ihre Freundin gesprochen und es wurde mir dann doch sehr bewusst wie wichtig ich ihr war, denn bisher war weiterhin ich die einzige Person, die von ihrer Beziehung wusste. Vielleicht war es auch, weil ich selbst auf Frauen stand, aber nicht nur. Ich spürte ihr Vertrauen in mich und war einfach nur glücklich, dass ich für sie da sein konnte. Ein in letzter Zeit eher weniger oft auftauchendes Gefühl.

Und da stand ich nun vor meinem Spiegel. Wie sollte ich das heute nur anstellen? Verführen war nun einmal nicht mein Spezialgebiet, auch wenn ich mich nicht ganz schlecht eingeschätzt hätte.
Eine durchsichtige Bluse oder doch ein enges Kleid? Sollte ich es überhaupt über mein Aussehen versuchen oder viel eher über meinen Körper und was ich mit ihm machte?

Und wie würde das überhaupt vor dem gesamten Kurs möglich sein.
Das hast du ja mal wieder super hinbekommen, schalt ich mich selbst. Jetzt war der Tag gekommen und ich hatte nicht einmal einen ausgereiften Plan vor Augen.
Würde Iris denn überhaupt darauf anspringen?

Nein! Ich würde jetzt nicht mehr an meinem Entschluss zweifeln. Ich hatte mir das jetzt in den Kopf gesetzt und würde es durchziehen. Wie schon gesagt, verlieren konnte ich ja nichts mehr.

So zog ich mir also eine weiße, sehr durchsichtige Bluse an und dazu eine schwarze, enge Jeans. Hohe Schuhe. Ich holte extra meine liebsten schwarzen High Heels heraus. Meine Haare ließ ich offen und schminkte mich etwas dunkler um die Augen herum.

Ich warf einen Blick auf mein Handy. Keine Nachricht, dafür musste ich jetzt los in die Uni.
Zu spät zum Kurs mit Iris wollte ich nun schließlich auch nicht kommen, denn das würde wiederum zu viel Aufmerksamkeit auf mich lenken.
Also saß ich fünfzehn Minuten später mit pochendem Herzen in der U-Bahn und versuchte, meine nervöse Schnappatmung in den Griff zu bekommen.
So würde das sonst nichts werden. Irgendwann, kurz bevor ich aussteigen musste, wurde es besser. Ich beruhigte mich ein wenig und konzentrierte mich. Ich durfte nicht zu wenig, sodass sie es nicht bemerken würde, aber auch nicht zu viel machen. Ansonsten würde es sehr peinlich werden.

Als ich dann irgendwann vor dem Hörsaal stand und mit pochendem Herzen wartete, blickte ich mich kurz nach Vanessa um. Ich wollte nicht mit ihr zusammen hineingehen, sondern gleich zwei Plätze weiter vorne reservieren, damit sie nicht protestieren konnte.
Also begab ich mich schnell in den Hörsaal, nachdem ich Vanessa nirgendwo gefunden hatte und setzte mich recht weit vorne hin. Kurz nach mir kam Vanessa dann auch schon. Mit hochrotem Kopf ging sie sehr schnell auf mich zu und ließ sich auf den Platz neben mir fallen.

„Oh mein Gott. Ich sage es dir. Mit den Öffentlichen bei Nieselregen ist der reinste Horror. Du kannst es dir gar nicht vorstellen. Für den Weg für den ich sonst zwanzig Minuten brauche, habe ich heute das Doppelte gebraucht!"
Ich nickte und grummelte irgendetwas. Gerade war ich einfach zu angespannt, um mich zusammen mit Vanessa über die Nieselregenprobleme im Dezember, die sie hatte, zu diskutieren.

Dann kam Iris auch schon herein und schlagartig wurde es ein bisschen ruhiger. Nicht ganz ruhig, aber doch so, dass man merkte, dass sich die Stimmung veränderte. Es war eher respektvoll als ängstlich und an sich nichts negatives. Die meisten warteten einfach mehr oder weniger gespannt auf unsere letzte Stunde.
Ihr Blick fiel auf den Kurs und sie ließ ihn schweifen. Genau dann, als sie das tat, öffnete ich lautlos meine Winterjacke und präsentierte ihr meine Bluse. Oder besser gesagt das, was meine Bluse eigentlich verdecken sollte.
Ich konnte nicht sagen, ob sie mich länger anblickte als alle anderen, aber sie bemerkte mich. Das tat sie definitiv. Im Gegensatz zu all den letzten Stunden, die ich in diesem Kurs verbracht hatte, merkte ich dieses Mal, dass sie mich für diese paar Sekunden, in denen ihr Blick über mich geglitten war, nicht ignoriert hatte.

Ich will dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt