Violett
Die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht und tauchte das Dorf in ein warmes Licht. Zum ersten Mal seit Tagen schien eine unausstehliche Hitze zu herrschen. Schweiß kroch mir den Rücken hinab. Der strahlend blaue Himmel war frei von Wolken. Hier und da flogen die unterschiedlichsten Vögel über unseren Köpfen ihre Runde. Ihr Gefieder leuchtete im warmen Licht der Mittagssonne und ich begann zu überlegen, wie es wäre, selbst zu fliegen. Die Freiheit, überall hin zu fliegen, nicht an den Boden gebunden, keine Grenzen gesetzt zu haben. Ich müsste nur meine Schwingen ausbreiten, mich vom Boden trennen und loslassen. Und dennoch wusste ich um die Grenzen, die uns gesetzt wurden. Selbst die Magie, die uns von der Natur selbst geschenkt worden war, konnte nicht alle Gesetze, denen wir uns beugen müssen, gegen die wir nichts zu tun vermochten, aufheben. Der Mensch würde ohne Hilfe für immer an den Boden gebunden sein. Aber durch die Magie waren wir in der Lage, das Leben leichter zu machen. Menschen in dieser Welt könnten selbst ohne Elektrizität Licht erzeugen, Lebensmittel einfrieren und die Arbeit von mehreren gleichzeitig machen. Und dennoch fiel mir auf, dass keines der Fenster, außer der kleinen Kirche abseits des Dorfes, richtiges Glas hatte. Selbst durch die Magie und die vielen Möglichkeiten, die sie mit sich brachte, schien es an Wissen im Bezug auf Naturwissenschaften zu mangeln. Als ich Alendro fragte, warum sie nicht einfach selbst Glas herstellen würden, schaute er mir in die Augen und erwiderte: "Wie sollte dies möglich sein?" Als ich damals seinen verwirrten Blick sah, diese Ahnungslosigkeit und diese Unwissenheit, kam ich mir vor, als würde ich ihm erklären, dass ich ein grünes Marsmännchen wäre, mit der Mission, diesen Planeten zu unterwerfen. Folglich hatte ich also nur genickt und ging auf mein Zimmer mit der Begründung, ich würde mich hinlegen wollen.
Nun stand ich also hier, in einem kleinen, muffigen Raum, mit nichts außer einem winzigen Bett aus Stroh und einem alten Schrank aus morschem Holz. Das Zimmer mochte gerade einmal vier Quadratmeter groß sein. Machte man die Tür auf, musste man aufpassen, nicht gleich über das Bett zu stolpern. Ich fragte mich ehrlich, wie Alendro in ein solches Zwergenbett passen sollte. Selbst ich besaß in meinem Haus im Wald ein größeres. Die Wand wirkte trist, schmucklos und massiv. Sie schien einen einzuengen. Ich bekam das Gefühl, als würde dieser winzige Raum weiter schrumpfen und so eilte ich zu dem einzigen Fenster gegenüber der Tür und öffnete dieses. Ein Quietschen machte deutlich, wie alt diese Vorrichtung bereits sein mochte. Kurz war ich versucht, hinunter zu eilen und nach einer Ölkanne zu fragen, verwarf diese Idee jedoch, weil es einfach lächerlich klang. Ich müsste nur einige Stunden hier drinnen auskommen, dann würden wir dieses Dorf wieder verlassen. Zu Anfang erfüllte mich der bloße Gedanke, endlich andere Menschen treffen zu können, mit bloßer Freude. Doch nun war ich mir nicht so sicher. Um mich abzulenken, lehnte ich mich ein wenig aus dem Fenster und stützte meine Ellenbogen auf die Fensterbank.
Stur schaute ich aus dem Fenster meines Zimmers auf die belebte Straße hinab. Wie aufgescheuchte, aber zugleich scheue Hühner wuselten sie umher und warfen hier und da interessierte Blicke in meine Richtung, wenn sie der Meinung waren, ich würde nicht hinsehen. Menschen waren von Natur aus neugierig. Wann immer etwas Neues oder Unbekanntes auftauchte, reagierten sie mit Misstrauen und wachsendem Interesse. Die Kuriositäten des Fremden und seiner Funktion oder Herkunft schien sogleich faszinierend als auch erschreckend, pflegte meine Großmutter im letzten Leben immer zu sagen. Und in dieser Welt, in der die Gesellschaft noch im Absolutismus feststeckte und von Aufklärung nichts wusste, schien dieses Phänomen verstärkt vorzuherrschen.
Betrübt betrachtete ich weiter das rege Treiben der Dorfbewohner, wie sie um den Herzog und seine Männer herum wuselten. Hier und da ertappte ich einige Frauen, wie sie Alendro immer mal wieder verliebte Blicke zu warfen. Eine kleine Frau von etwa dreißig Jahren schob gar ihr Korsett zurecht und rannte kurz zu einem Stand, um sich mit roten Früchten die Lippen an zu malen. Ein eigenartiges Gefühl von Bitterkeit, als hätte ich in eine Zitrone gebissen, breitete sich wie Gift in meinem Körper aus. Es stieg und stieg und ging mit einer stetig wachsenden Wut einher. Einer Wut, die mich zu kontrollieren schien. Alles in mir erstarrte plötzlich. Ich stand da wie gelähmt. Schrecken erfüllte mich, stieß dieses Gift bei Seite, das meine Gedanken zu vernebelt schien, und warf mich ins Hier und Jetzt zurück. Zutiefst verwirrt von meinem Empfinden wand ich mich vom Geschehen ab. Ich sah noch, wie sich diese Frau, der ich vor wenigen Sekunden noch die Augen auskratzen wollte, in die starken Arme Alendros warf, als ich ihnen meinen Rücken zuwandte. Doch selbst dies brachte meine Gedanken nicht zum Schweigen.
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The Awakening of Magic
FantasyViolett lebt seit einigen Jahren allein in einem Wald voller machtvoller magischer Wesen. Doch das war nicht immer so. Vor nicht ganz zwanzig Jahren lebte Violett als Anne Johnsen noch in Amerika in einer Welt ohne jegliche Art von Magie. Doch nach...