Kapitel 44

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Alendro

Ich saß mit meinem Bruder allein in seiner privaten Bibliothek und genoss die Stille. Das Met in meiner Hand war herrlich herb und erfrischend. Violett hatte sich in unser Zimmer zurückgezogen, um sich auszuruhen. Für sie war der heutige Tag eine reine Tortur. Mein Bruder trank ebenfalls im Stillen von seinem Krug. Wir beide schauten gedankenverloren ins Feuer. Nach dem heutigen Treffen gab es einiges zu verdauen. "Du hast dir eine weise Frau gesucht." Die Stimme meines Bruders war tief und nachdenklich. Er schien in den letzten Stunden deutlich gealtert zu sein. Ich nahm einen großen Schluck Met und ließ es auf meiner Zunge zergehen. Auf einem kleinen Beistelltisch waren einige Scheiben Schinken bereitgestellt. Ich griff nach einer Scheibe und rollte sie zusammen. "Das habe ich wohl." Ich konnte nicht umhin Stolz auf meine Frau zu sein. Sie war mehr als ein Geschenk. Sie war ein Segen. Ein Segen, um den ich jeden Tag meines Lebens froh sein werde, ihn zu haben. Mein Bruder schnappte ebenfalls nach dem Schinken und biss herzhaft ab. Dann begann er plötzlich zu lachen: "Als sie in den Saal trat, dachte ich kurz, du würdest sie zur Schlachtbank führen, so blass sah das Kind aus. Und dennoch hat sie uns alle überrascht. Selbst Wulf konnte seinen Stolz nicht verstecken und stand da wie ein aufgeplusterter Löwenwandler. Der alte Spießer scheint, was das Mädchen betrifft, nicht recht zu wissen, was er denn machen soll. Er war noch nie so heillos überfordert. Ich kann ihn als Botschafter in ein Kriegsgebiet unserer ärgsten Feinde schicken und er würde mit einem neuen Verbündeten wiederkommen. Ich könnte ihm befehlen aus kleinen Bauerntrampeln eine Elitearmee binnen weniger Tage zu formen. Und bei den Göttern, er würde einen Weg finden. Doch kaum taucht ein kleines Mädchen aus dem Wald auf, wirkt er verzweifelt. Wenn es so ist, eine Tochter zu haben, bete ich mehr denn je um einen Sohn. Ich hoffe, mein Bruder, du wirst es leichter haben, als dieser alte Mann." Bevor ich es merkte, begann sich ein tiefes Lachen seinen Weg aus meinem Bauch heraus zu entwickeln und ich musste meinen Krug abstellen, um ja nichts zu verschütten. Auch Avenius lachte seit langer Zeit aus tiefstem Herzen. "Wie wahr", sagte ich noch immer lachend und klopfte meinem Bruder auf die Schulter. "Aber Violett kriegt jeden, wenn sie möchte, in die Knie. Und das alles ohne ihre Magie zu benutzen. Selbst Benjamin scheint ihr gegenüber seine große Klappe verloren zu haben. Und Garandur singt wahrscheinlich noch immer Lobeshymnen über meine Frau. Sie hat es in wenigen Tagen geschafft, die ganze Burg auf ihre Seite zu ziehen. Vor allem mein Sohn vergöttert sie. Und sie vergöttert ihn auf eine Art und Weise, als wäre er ihr eigenes Kind." Selbst ich wusste, dass ich wie ein Liebeskranker Trottel rüber kam. Und doch war mir das egal. Um meinen Mund zu stopfen, griff ich nach einer weiteren Scheibe Schinken und schob sie mir zwischen die Zähne. Mit einem Mal wurde mein Bruder wieder ernst: "Sie ist in vielerlei Weise etwas besonderes. Ihre Art zu denken ist so anders als die anderer Frauen. Sie ist klug und mutig, ganz anders als alles, was ich bis jetzt gesehen habe." Er drehte sich langsam zu mir. In seinen goldenen Augen konnte ich bereits wieder sehen, dass er mal wieder etwas ausheckte. Ich wandte mich ihm zu. Meine Miene zeigte deutlich mein Misstrauen: "Ich kenne diesen Blick. Was planst du nun schon wieder, Bruder?" "Eigentlich plane ich das schon länger, aber durch Violett scheint die Erfüllung nun endlich realistischer. Du erinnerst dich an die alte Schule für junge Damen in deinem Land?" Das verwirrte mich nun etwas. Diese Schule war vor einigen Jahren geschlossen worden, weil die meisten Adligen ihre Töchter lieber privat unterrichten ließen oder teilweise auch gar nicht. Worauf also wollte sein Bruder hinaus? Zögerlich nickte ich und signalisierte ihm, so fortzufahren. "Ich möchte eine Schule für Magie und Zauberei eröffnen. Da draußen gibt es Kinder mit ungeahntem Potential, das nur darauf wartet, erforscht zu werden. Nicht nur Hexen und Zauberer, sondern auch Druiden und Biestreiter. Und doch haben wir niemanden, der genug Wissen und Macht hätte, sie alle auszubilden und zu lehren." Was war das? Überrascht blickte ich auf. "Du willst die Schule neu eröffnen, um die jungen Adligen den Umgang mit Magie zu lehren? Willst du sie etwa zu Kriegswaffen machen oder was?" Ich wusste noch nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits war es wichtig den Kindern den Umgang ihrer Macht zu erklären. Andererseits konnte ich nicht umhin, die Idee von Kindern als mögliche Kriegswaffe zu verabscheuen. Doch mein Bruder schnaubte nur beleidigt: "Natürlich nicht. Ich habe zwar schon vor, militärisch in diese Richtung vorzugehen, aber doch nicht mit einfältigen Kindern, die sich alle für besser halten als jeden anderen. Nein. Ich habe nicht vor, die Kinder zu neuen Kriegswaffen auszubilden. Aber ich gebe zu, dass ich sicherlich einigen bestimmten hinterher das Angebot machen werde, mir in einer Art Sondereinheit zu dienen und in diese Richtung weiter trainiert zu werden." Das ließ mich aufatmen. Ich wusste, dass Violett, wenn es anders wäre, nie dabei mitwirken würde. Apropos. "Warum genau Violett? Du könntest auch Wulf fragen, er dürfte sich mit Adligen und deren Umgang besser auskennen, oder nicht?" Das brachte Avenius wieder zum Lachen: "Wulf wäre mehr als falsch für diese Aufgabe. Außerdem möchte ich jemanden, der sich nicht um Etikette und Rangordnung kümmert. Violett ist mächtig genug, die Kinder mit ihrer Magie in Schach zu halten und notfalls einzugreifen. Außerdem-", so sagte er und nahm noch einmal einen Schluck Met, "würde ich sowohl Jungen als auch Mädchen die Möglichkeit schenken, zu lernen." Ich verschluckte mich beinahe. Nicht nur die Jungen, sondern auch die Mädchen sollten beide gleichermaßen ausgebildet werden? Da würde kaum ein Adliger mitmachen. Und doch... Violett wäre perfekt dafür, musste ich leider sagen. Durch ihre Macht konnte sie sich ihren Respekt schnell und einfach verdienen. Durch ihre Art zu denken und ihre Sturheit, ihren Weg zu gehen, würde sie schnell selbst die Mädchen motivieren und den Jungen klar machen, dass sie das Sagen hatte. Zudem war sie als meine Frau im Rang mächtiger als alle anderen Adligen, mit Ausnahme von mir und meinem Bruder. Selbst ihr Vater konnte ihr nichts mehr befehlen. Somit wäre sie perfekt für diese Rolle. Ich schaute zu meinem Bruder und konnte nicht anders als den Kopf zu schütteln: "Du hegst diesen Plan nicht erst seit heute, nicht wahr?" Das freche, jungenhafte Grinsen auf seinem Gesicht war Antwort genug. "Als mir klar wurde, wer sie ist, wessen Tochter, dachte ich mir schon, dass keiner außer ihr in Frage kommen würde. Doch schnell hat sie mir gezeigt, dass sie bei weitem nicht so wie ihre Mutter ist." Avenius schwenkte mit seinem Krug. Noch immer zierte ein Lächeln sein Gesicht und ließ ihn deutlich jünger aussehen. "Sie ist sogar noch besser als ihre Mutter, in jeder Hinsicht." Dem konnte ich mich nur anschließen. Und dennoch wurde mir noch etwas klar. "Du fragst mich nicht um Erlaubnis, richtig?" Nun schaute mir mein Bruder wieder in die Augen. Ich konnte seine Entschlossenheit darin spüren und seinen Respekt für mich und meine Frau. "Nein, Bruder, das tue ich nicht. Ich werde sie um Erlaubnis bitten, ihr diese Aufgabe übertragen zu dürfen. Und ich werde es persönlich tun. Ich wollte dich nur vorher über meine Pläne aufklären." Ich konnte nicht umhin, über diesen Mann, der so locker vor mir saß, zu staunen. Ich kannte ihn nun mein ganzes Leben lang. Ich habe für ihn gekämpft und ich habe für ihn geblutet. Und doch gab es noch immer Momente, in denen er mich überraschte. Jetzt gerade hatte ich nicht meinen König vor mir, sondern bloß meinen älteren Bruder. Und ich musste sagen, ich genoss diesen Moment. Denn von solchen gab es viel zu wenige zwischen uns Brüdern.

The Awakening of MagicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt