Alendro
Gemeinsam mit meinem Sohn starre ich auf die Kreatur auf dem Esstisch. Sie schien klein. Höchstens so groß wie ein ausgewachsener Hahn. Dunkle Schuppen und kleine Hörner schmückten seinen Körper. Es schien ein Geschöpf edler Herkunft zu sein. Wie kleine Rubine funkelten seine kleinen Augen, während er mir einen misstrauischen Blick zuwarf. Nein, das stimmte nicht ganz. Er ließ mich gar nicht erst aus den Augen. Ich konnte noch immer nicht glauben, was hier so scheinbar gewöhnlich vor mir saß. Der kleine Drache polterte mit seinem Schweif vor lauter Aufregung auf dem Tisch herum. Violett hatte diesen kleinen Kerl, ich meinte dieses kleine Weibchen, Sky genannt. Ein sehr eigentümlicher Name, dachte ich. Die Sonne wanderte bereits wieder an den Bergen hinab. Ein sattes rot färbte den Himmel. Ganze zwei Stunden hatte sie mit mir diskutiert, damit ich sie mitnehmen würde. Zunächst stritt ich vehement ab. Es würde zu gefährlich sein. Es schien, als hätte sie diesen Wald noch nie verlassen. Sie wusste nicht um die Gefahren dort draußen. Doch sie versicherte mir, dass sie sehr wohl in der Lage wäre, auf sich selbst aufzupassen. Irgendwie beleidigte mich dies. Ich war ein Mann, ein Krieger. Ich hatte bereits mit elf in einer Schlacht gekämpft. Als Mann war es meine Aufgabe, eine Frau wie sie aufzupassen, sie vor allen Gefahren zu schützen. Wieso also war sie der Meinung, sie müsse sich selbst beschützen? Traute sie meinen Fähigkeiten etwa nicht? Als sie im nächsten Satz auch noch sagte, sie könne sich auch selbst verpflegen und für sich selbst sorgen, war ich vom Stuhl gesprungen. Ich war wohlhabend genug, um für eine weitere Person zu sorgen. Selbst wenn nicht, hätte ich durchaus als Mann für sie gesorgt. Diese Frau schien mich beleidigen zu wollen. Ich hatte bereits zu einer Erwiderung angesetzt, als ich ihre verwirrte Miene sah. Und erst da wurde mir eines klar. Diese junge Frau lebte seit Jahren allein. Sie hatte keinen Mann, der für sie sorgte und sie beschützte. Sie hatte sich selbst versorgt. Sie hatte es geschafft, allein zu überleben. Diese Frau brachte sich selbst Dinge wie das Jagen oder wie man Nahrung anbaute bei. Violette war von Grund auf anders als alle anderen Frauen, die ich je gesehen hatte. Sie wusste vielleicht gar nicht, dass sie mich mit dem, was sie gesagt hatte, beleidigt hatte. All dies war ernst gemeint gewesen. Sie wollte mir bloß nicht zur Last fallen. Ich hatte einmal tief Luft geholt, mich wieder auf den doch ziemlich bequemen Stuhl gesetzt und ihr dann erst in die Augen geschaut. Erst dann hatte ich ihrer Bitte zugestimmt, unter der Bedingung, dass ich mich um sie kümmern würde, sie beschützen würde. Kaum hatte sie die Bedingungen akzeptiert, sprang sie auf und rannte ins Haus. Chris war unterdessen wieder zurückgekommen. Er hatte die Diskussion mitbekommen und rannte freudestrahlend auf mich zu. Da erst merkte ich, dass er Violette in dieser kurzen Zeit bereits ins Herz geschlossen hatte. Für gewöhnlich war er Fremden gegenüber stets misstrauisch. Er vertraute nur wenigen. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt. Ich hatte ihn allein aufgezogen. Die Liebe einer Mutter war ihm bis jetzt immer verwehrt. Ich griff unter seine Achseln und hob ihn hoch. Gemeinsam mit meinem Sohn ging ich zurück ins Haus und wollte mich an den Esstisch setzen. Doch anders als heute morgen saß dieser Drache dort. Ich stand wie erstarrt. Plötzlich kam Violette rein und sah, was hier los war. "Achso, entschuldigt. Das hier ist Sky. Sie tut euch nichts. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich sie mitnehme. Ich möchte sie nur sehr ungern allein zurücklassen." In ihrer Stimme klang ihre Freude nach. Wie in Trance nickte ich langsam zustimmend. Vorsichtig näherte ich mich dem Geschöpf und stellte Chris auf den Boden. Violette flitzte wieder aus dem Raum und ließ uns mit diesem majestätischen Tier allein. Dies würde schwerer zu erklären sein, als die Anwesenheit von Violette.
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The Awakening of Magic
FantasyViolett lebt seit einigen Jahren allein in einem Wald voller machtvoller magischer Wesen. Doch das war nicht immer so. Vor nicht ganz zwanzig Jahren lebte Violett als Anne Johnsen noch in Amerika in einer Welt ohne jegliche Art von Magie. Doch nach...