Violett
Viel Zeit für uns hatten Alendro und ich nicht, bevor der Stress wieder losging. Nur eine Woche nach unserer Hochzeit wurden wir in die Hauptstadt gerufen. Nach dem Vorfall mit Lord Grival und seiner Frau sind mehr solcher Geschehnisse aufgedeckt worden und sie alle hatten eines gemeinsam. Schwarze Magie. Auch die zwei Nachbarkönigreiche schienen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen zu haben. Und so wurde schnell eine Krisensitzung einberufen, bei dem jedes Königreich seine Vertreter entsandte. Alendro gehörte als General der Armee des Königs nun einmal auch zu diesem Gremium. Und so geschah es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Greif reisen würde. Das Treffen war zwar erst in fünf Tagen, doch Alendro wollte sich zuvor noch mit den anderen Lords auseinandersetzen und mit seinem Bruder reden. Ich hatte zunächst angenommen, dass Alendro allein reisen würde, da ich als Frau kein Amt innehatte und keine Position bekleidete. Doch der König hatte in seinem Schreiben deutlich betont, dass er mich wegen meines Wissens als Beraterin bei dieser Versammlung dabei haben wollte. Liselein hatte mir geholfen, mich für die Reise fertig zu machen. Noch immer lag ihr das Erlebnis mit ihren Eltern in den Knochen. Doch sie begann langsam wieder zu lächeln. Sie hatte mir versprochen, während unserer Abwesenheit ein Auge auf Chris zu werfen. Die beiden waren besonders in den letzten Tagen ein Herz und eine Seele geworden. Um so mehr schmerzte es mich, die beiden ausgerechnet jetzt verlassen zu müssen. Trotz meines Protestes hatte Alendro darauf bestanden, mir in der Hauptstadt Schmuck und neue Kleider zu kaufen. Wir würden nicht viel Gepäck mitnehmen können und ich brauchte schließlich Kleider, war seine Argumentation. Dem konnte ich kaum widersprechen. Neben Alendros kam nur noch Benjamin mit, zu meiner Überraschung. Garandur sollte während unserer Abwesenheit als Stellvertreter zurückbleiben und für die Sicherheit sorgen. Nun stand ich also wieder mal in einer Lederhose und Hemd gekleidet neben Alendro und bestaunte den Greif vor uns. Sein Gefieder strahlte im Licht der aufgehenden Sonne golden. Seine Bernsteinfarbenen Augen musterten mich mit großer Neugier. Seine majestätischen Schwingen waren an seinen imposanten und starken Körper gelegt. Mit seinem Schnabel schnappte er spielerisch nach meinem Mann, der das Tier liebevoll am Hals streichelte. Da nur der König über solche Geschöpfe verfügte, war ich kurz überrascht, wie vertraut die beiden miteinander umgingen. Doch dann wurde mir klar, dass Alendro als Bruder des Königs vermutlich mit diesen Tieren aufgewachsen war. Schwungvoll hob sich Alendro auf den Sattel und hielt mir liebevoll die Hand hin. "Und du bist dir auch wirklich sicher, dass das nicht gefährlich ist zu zweit?" Mein Mann schien mich wohl falsch verstanden zu haben, denn er sagte schmunzelnd: "Ich werde es wohl schaffen, für einige Stunden meine Hände von meiner viel zu reizenden Frau zu lassen. Auch wenn es mir sichtlich schwer fallen wird." Benjamin stand leider dicht genug, sodass er jedes Wort hören konnte und fing an zu lachen. Ich spürte deutlich, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und ich errötete. Wir hatten noch immer nicht unsere Ehe vollzogen und so langsam verunsicherte mich das. Immer wenn ich vorsichtig versuchte, die Initiative zu ergreifen, kam von ihm nur, dass er lieber noch warten würde, bis ich auch wirklich bereit war. Aber ich musste sagen, dass mir langsam das Selbstbewusstsein fehlte. Vielleicht fand er mich auch einfach nicht attraktiv genug. Ich war recht klein und besaß stellenweise zwar einige Kurven, doch ich entsprach kaum dem Schönheitsideal dieser Welt. Viele der Frauen schienen groß und eher drahtig gebaut zu sein. Auch meine Haar- und Augenfarbe schien stark von der Norm abzuweichen. Und dennoch konnte ich nicht umhin, jedes Mal, wenn Alendro mir sagte, ich sei schön, seinen Worten Glauben zu schenken. Vielleicht hatte er ja wirklich recht. Vielleicht sollten wir doch noch ein wenig warten und uns erst richtig kennenlernen. Gedankenverloren stieg ich vor meinen Mann auf den Sattel und lehnte mich an ihn. Mit meinen Händen hielt ich mich an dem Sattel fest. "Bist du bereit, Liebes?", hauchte er mir leise ins Ohr. Ich erschauderte kurz und nickte, aus Angst, keinen vernünftigen Satz hervorzubringen. Und dann ging es los. Ohne Vorwarnung erhob sich das Geschöpf in die Lüfte. Benjamin hinter uns rief beleidigt, warum wir denn nicht auf ihn warteten. Am Horizont ging die Sonne langsam auf und tauchte die Felder in einen sanften Goldton. Der Wind flog durch meinen Zopf und ich fühlte mich frei. Ich fühlte mich frei und losgelöst, so als gehörte die Welt nur uns beiden. Die riesigen und schier endlosen Felder, die ich zuvor auf der Reise gesehen hatte, wurden schnell immer kleiner. Ich erkannte das Dorf, durch das wir durchgefahren waren, und einige kleine Flüsse, die sich wie kleine Adern durch das Land zogen. Und erst jetzt wurde mir wirklich klar, dass ich in einer anderen Welt lebte. Nirgendwo auf der Erde hatte ich so viel unberührte und wilde Natur gesehen, wie in dieser Welt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich kaum noch an mein früheres Leben erinnerte. Und ich vermisste es auch nicht mehr so sehr. Ich hatte eine Mutter gehabt, die mich über alles geliebt hatte. Ich hatte einen kleinen Drachen, der auf mich aufgepasst hatte. Und nun hatte ich einen Ehemann, den ich zu lieben begann, und einen kleinen Stiefsohn, der mir sehr am Herzen lag. Dieses neue leben in dieser anderen Welt war doch gar nicht so schlecht. Es schien sogar perfekt zu werden.
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The Awakening of Magic
FantasyViolett lebt seit einigen Jahren allein in einem Wald voller machtvoller magischer Wesen. Doch das war nicht immer so. Vor nicht ganz zwanzig Jahren lebte Violett als Anne Johnsen noch in Amerika in einer Welt ohne jegliche Art von Magie. Doch nach...