Kapitel 38

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Alendro

Ich fand sie schließlich draußen auf dem Trainingsgelände. Gedankenverloren stand sie am Zaun, der den Trainingsplatz von den Zielscheiben für die Bögen abtrennte. Auf dem Trainingsplatz war reges Treiben zu beobachten. Dreißig Männer übten sich in kleinen Duellen und trainierten ihr Können. Darunter auch Chris zu meiner großen Verwunderung. Mein Sohn stand mit einem kurzen Holzschwert bewaffnet neben Garandur und beobachtete ganz genau, was der alte Mann ihm versuchte zu zeigen. Mir wurde schlagartig klar, dass das eigentlich meine Aufgabe war. Und doch stand ich unschlüssig in der Gegend herum und schaffte es nicht einmal, mich um meine eigene Frau anständig zu kümmern. Langsam schlenderte ich auf sie zu. Sie schien mich noch immer nicht wahrgenommen zu haben. Stattdessen bemerkte ich, wie sie Chris voller Stolz und Zuneigung beim Training zu schaute. Mir wurde warm ums Herz. In unserer Gesellschaft war es nicht unüblich, dass eine angeheiratete Frau ihr Stiefkind nicht anerkannte. In vielen Fällen wurde dem Erstgeborenen sogar das Erbrecht aberkannt und nur das Kind, der angeheirateten Frau und ihres Ehemannes sollte den Titel des Vaters erben. Ich hatte einige Zweifel, wie ich in diesem Fall reagiert hätte, wenn Violett Chris nicht anerkannt hätte. Und doch konnte ich nicht anders, als erleichtert zu sein, über die Liebe und die mütterliche Zuneigung, die Violett dem Jungen zukommen ließ. Überhaupt schien sie in allem so ganz anders als alle Frauen, die ich in meinem Leben kennengelernt hatte. Sie kümmerte sich anscheinend selbst um die Erziehung und die Schulische Ausbildung unseres Sohnes und bemühte sich, ihn in allem zu unterstützen. Ich trat neben sie und schaute Chris weiterhin zu. So standen wir einige Minuten schweigend nebeneinander, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Plötzlich schaute sie zu mir. In ihren Augen lag wieder nichts als Liebe: "Ich weiß, wieso du hier bist. Es ist nicht deine Schuld, dass mein Vater ein Idiot ist. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Aber ich bin trotzdem froh, dass du mir hinterher gerannt bist." Mir fehlten zunächst die Worte. Wie schaffte sie es, immer zu wissen, was ich tun oder sagen wollte? Es war, als könnte sie direkt in mein Herz schauen. Doch anstatt etwas zu sagen, nahm ich meine Frau nur fest in die Arme und drückte sie an mich. Manchmal waren es keine Worte, die wir brauchten. Und in diesem Moment schien es so zu sein. Violett lag still in meinen Armen und vergrub ihr Gesicht an meiner Brust. Ich spürte die Blicke meiner Männer auf mir, doch das war mir egal. Wenn sie der Meinung waren, meiner Frau und mir hinterher zu spionieren, konnten sie nachher gerne einige zusätzliche Trainingseinheiten machen. Ich schmunzelte bei diesem Gedanken. Laute Schritte erklangen und kamen schnell auf mich zu. Auch ohne Angriff. Der nächste kam von oben. Auch diesen konnte ich ohne Probleme umlenken. Ich hatte Mühe, meine Kraft so gering wie möglich zu halten, um meinem Sohn nicht gleich das Schwert aus der Hand zu schlagen. "Los, junger Herr. Zeigt dem Lord, was in Euch steckt!", erklang es vom hinteren Feld. Gespielt beleidigt rief ich entgegen: "Noch bin ich Euer Lord und Herr. Ihr solltet mich anfeuern, Benjamin. Dafür dürft ihr nachher drei weitere Trainingseinheiten absolvieren." "Aber mein Herr, ich wollte Euren Sohn doch nur ermutigen. Wie könnt Ihr nur so kaltherzig sein?", erwiderte Benjamin ebenfalls mit gespielter Trauer. Ich hörte Violett schnauben und war für einen Moment so stark abgelenkt, dass ich völlig vergaß, dass ich selber nicht angreifen wollte. Stattdessen nutzte ich den nächsten Schlag meines Sohnes gegen ihn und hätte ihn beinahe übers Feld geschleudert. Doch zu meiner großen Überraschung schlug mein Schwert gegen eine Art Barriere. Chris hatte noch rechtzeitig seine Magie für einen Schild eingesetzt. Doch anscheinend hatte ihn das alles an Magie gekostet. Außerdem war der Schild lange nicht so machtvoll wie Violetts. Mittlerweile keuchte Chris und schwitzte. Doch in seinen Augen war seine Entschlossenheit deutlich zu sehen. Und nicht zum ersten Mal erkannte ich mein jüngeres Ich in ihnen. Ein kleiner Schatten flitzte über mich hinweg. Im nächsten Moment erkannte ich den kleinen Drachen, der mittlerweile fast so groß war wie ein Pony. Ich schaute zu meinem Sohn. Er war fast am Ende seiner Kräfte. "Das wird der letzte Angriff, mein Sohn. Zeig mir, was in dir steckt." Doch eigentlich brauchte ich nichts mehr zu sehen, um zu wissen, dass mein Sohn eindeutig mein Talent für den Kampf geerbt hatte. Chris hob sein Schwert und stürmte auf mich zu. Sky setzte über ihn ebenfalls zum Angriff an. Dieses Mal wich ich dem Hieb aus und duckte mich vor dem Feuer von Sky. Wäre ich auch nur eine Sekunde langsamer gewesen, hätte dieser kleine Feuerball von dem Drachenjungen mir mindestens mein Haar versengt. Chris schaute enttäuscht zu mir hinauf. Ich senkte mein Schwert und trat neben meinen Sohn. Stolz hob ich ihn auf meine Arme: "Ich bin stolz auf dich, Chris. Du hast dich gut geschlagen. Ab morgen können wir zusammen trainieren und irgendwann wirst du mich sogar ohne Magie und Drachen besiegen können." Das allein schien meinen Sohn aufzumuntern und er begann zu lächeln. Violett kam ebenfalls auf uns zu und warf sich mit uns in eine Umarmung. Chris drückte sie einen dicken Kuss auf die Wange und mir einen sanften und liebevollen auf die Lippen. Ach. Wenn doch nur jeder Tag wie dieser sein könnte. Auch meine Männer applaudieren für den kleinen Jungen. Als ich Violett wieder in ihre Augen schaute und wieder dieses grenzenlose Vertrauen darin sah, zog ich sie noch einmal zu mir und küsste sie. Chris gab ein Geräusch des Ekels von sich: "Ihh." Und das reichte, um mir zu zeigen, dass mein Sohn trotz allem nur ein sieben Jahre alter, kleiner Junge war. "Du warst großartig Chris. Dein Schild war sehr gut gewesen. Und deine Zusammenarbeit mit Sky war auch nicht schlecht. Aber vergiss trotzdem nicht dein Training. Denn nur wer-" Chris verdrehte die Augen, als er Violetts Satz beendete: "Denn nur wer stets trainiert und an sich arbeitet, kann auch wirklich ein mächtiger Krieger werden. Selbst der stärkste Zauberer hat einmal klein angefangen. Ich weiß. Das werde ich tun, Violett . Das verspreche ich dir" Ich konnte nicht anders als mit dem Kopf zu schütteln und mich zu wundern, über welche Weisheiten meine Frau doch verfügte. Chris dürfte wohl der einzige siebenjährige Junge sein, der so schnell und effizient Magie und andere Dinge lernte. Vielleicht konnte ich Violett ja dazu überreden, ihr Wissen mit anderen, außer Chris, zu teilen.

The Awakening of MagicWo Geschichten leben. Entdecke jetzt