Trigger Warning: Autounfall, Verlust, Tod
Alex' Sicht:
Als ich im Auto sitze und nach Grünwald fahre, schlage ich vor Wut mehrmals gegen das Lenkrad. Wieso hat sich Lu die ganze Woche nicht bei mir gemeldet? Am Anfang der Woche hat sie zumindest noch geantwortet aber das wurde immer seltener. Heute hat sie mir den ganzen Tag nicht geantwortet. Merkt sie nicht wie lange das ist oder ist es ihr egal?
Andererseits kann ich mir nicht vorstellen wie es ist, seinen Bruder zu verlieren. Oder ist das schon eine Weile her? Fabi hat mir natürlich nicht mehr gesagt. Am liebsten wäre ich zuvor zu Hannah gefahren oder hätte mich im Internet belesen, aber ich wollte schnellstmöglich zu ihr. Wie lange das wohl her ist.. erst Monate oder gar Jahre?
Wieso hab ich nicht einfach im Internet nach ihrer Familie gesucht. Dann wüsste ich doch alles. Aber nein, ich hatte angenommen sie hätte mir alles wichtige erzählt. Unterwegs fällt mir auf, dass ich erst ein paar Mal in Grünwald war, obwohl ich selbst schon immer in München wohne. Es fühlt sich an wie eine andere Welt. Die riesen Villen, geschmückte Vorgärten, die teuren Autos.
Als ich am Friedhof ankomme, sehe ich schon mehrere Rolls Royce vor mir. Zuerst möchte ich aussteigen, sehe dann aber dass Lu's Bruder rauskommt, hinter ihm eine Frau und ein Mann. Die beiden strahlen absolute Autorität aus, wirken dennoch relativ gelassen für dieses Viertel. Sind das etwa Lu's Eltern? Sie sehen aus wie das Paar aus dem Internet. Alle sind schwarz gekleidet, sie werden wohl gemeinsam am Friedhof gewesen sein.
Lu's Eltern steigen auf die Rückbank des einen Autos, ihr Bruder in das andere. Nur ein Rolls Royce bleibt zurück. Mit dem muss Lu gekommen sein. Ich steige trotz des Regens ohne Regenschirm aus und gehe schnellen Schrittes Richtung Eingang, da hält mich eine Stimme ab. „Herr Ebers." Ihr Bruder ist das jedenfalls nicht. Ich drehe mich um und sehe einen Mann in Uniform. Ist das etwa ihr Fahrer? Sie haben einen eigenen Fahrer? Verrückte Welt.
„Sie kennen meinen Namen?", frage ich überrascht, aber freundlich. Ich habe das Gefühl, dass er es gut meint. Ist vermutlich auch nicht leicht für Menschen wie ihren Bruder zu arbeiten. „Natürlich. Ich wage es nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, Frau Diehn's nahester Angestellter zu sein." Angestellter.. wie das klingt. „Sie siezen sie", stelle ich irritiert fest und habe beinahe vergessen warum ich eigentlich hier bin. Der Mann schmunzelt und nickt.
„Wissen Sie, ich fahre sie nun seit Jahren umher. Ich kenne die Familie seit einer Ewigkeit und ich weiß wer sie sind, weil ich wissen muss, wo Frau Diehn ist. Ich habe sie aber noch nie so erleichtert gesehen, wie wenn sie von ihnen nach Hause kommt." „Danke", meine ich irritiert und runzle meine Stirn. Komische Situation.
„Ich verstehe, dass sie beiden unterschiedliche Leben führen. Ihr Leben ist sicher nicht leichter nur wegen des Geldes. Sie hatte Angst. Deshalb hat sie ihnen nichts gesagt." „Ich weiß", nicke ich und bin überrascht darüber, dass er davon weiß. Andererseits.. er wirkt wie eine sichere Stelle, die zwar alles weiß, aber nichts preisgibt. Nicht, wenn es nicht von Nöten wäre.
„Frau Diehn wird mich womöglich kündigen, wenn ich ihnen das sage, aber Leonardo Diehn ist ihr Zwillingsbruder. War ihr Zwillingsbruder. Er hatte einen Autounfall vor zwei Jahren und es nimmt sie nach wie vor sehr mit. Hauptsächlich weil sie nicht trauern darf aber hier gebe ich wirklich zu viel von mir." Ich sehe ihn verwirrt an, aber er ignoriert das scheinbar gekonnt.
„Sie waren auf dem Heimweg von einer geschäftlichen Veranstaltung. Sie haben im Auto noch per Freisprechanlage telefoniert. Deshalb fuhr Herr Diehn langsamer und auf der rechten Spur. Es kam ein Auto von hinten, das den Fahrer auf der Mittelspur mit schneller Geschwindkeit rechts überholen wollte. Es hat nicht geklappt und er ist in das Auto von Herr Diehn gerast, der widerum in den LKW vor ihn gedrückt wurde."
„Das ist schrecklich", stelle ich schockiert fest. Wenn sie beide gefahren sind, wo war Luisa dann? „Frau Diehn fuhr etwas hinter ihnen auf der mittleren Spur. Sie hat alles miterlebt, gehört und gesehen. Sie sagte der Polizei damals, dass sie den Schrei ihres Bruders gehört hat, dann den Aufpraller und seinen letzten Atemzug, ohne dass sie es im Auto bereits registriert hätte. Zeugen haben darüber berichtet, dass sie zu ihm gerannt ist und ihn so gesehen hat. seine Leiche. Zumindest das was davon übrig blieb. Seine Armen wurden bei dem Aufprall vom Körper getrennt."
Ich schlucke hart. Ich bin relativ unsensibel, aber bei dieser Erzählung könnte keiner unberührt bleiben. Jetzt verstehe ich auch die Hintergründe, warum sie mit so großer Distanz reagiert. Sie muss ein Trauma erlitten haben bei dem was sie gesehen und gehört hat. „Sie leidet heute noch an Schlafproblemen und kann nicht länger als eine Stunde im Auto sitzen. Wobei ich bemerkt habe, dass sich das mit ihrer Beziehung wesentlich gebessert hat." Deshalb ist sie also in der Nacht des Öfteren wach gewesen. Wie schafft sie das nur alles?
„Sollte ich ihr Zeit geben?", frage ich besorgt. Ursprünglich wollte ich sie unbedingt sehen, aber jetzt.. Das ändert wieder so einiges. Ich will ihr nur helfen und wenn das geht, indem ich gehe, würde ich das in Kauf nehmen. „Ich denke es würde ihr helfen, wenn sie zu ihr gehen. Sie mag vielleicht heute mit niemandem reden, aber ihre Anwesenheit wirkt beruhigend auf Frau Diehn." „Danke..-" „Nennen Sie mich bitte Andreas." „Danke, Andreas."
Als ich das Mausoleum betrete dreht sich Lu sofort um. Sie hat wohl nicht mit Gesellschaft gerechnet, vor allem nicht mit meiner Anwesenheit. „Andreas", ist das einzige, das ich zu ihr sage, damit sie weiß wieso ich hier bin. Wenn sie nicht reden möchte, werde ich das auch nicht tun. Ich sehe, dass sie sich entspannt und gehe weitere Schritte auf sie zu bis ich sie in meinen Armen halte und sie ihren Kopf an meine Brust legt. Das ganze Gebäude hier ist beängstigend. Sie haben sogar ein eigenes Haus für ihre Verstorbenen. Gut, ein Mausoleum ist nicht riesig, aber dennoch ist es ein abgeschlossenes Gebäude.
„Danke", haucht Luisa kaum hörbar und ich sehe sie überrascht an. Sie redet mit mir, obwohl sie an diesem Tag scheinbar nicht redet. Wenn das an mir liegt.. Ich werde sie nicht loslassen. Sie fühlt sich bei mir sicher. „Nicht dafür", murmele ich gegen ihre Schläfe und halte sie fest. Ich stehe so lange bei ihr bis ihr zu kalt ist um hier zu bleiben. Das dauert mehr als eine halbe Stunde. Aber ich weiche ihr nicht von der Seite.
DU LIEST GERADE
ANOTHER LOVE
RomanceEine flüchtige Bekanntschaft, die Spuren hinterlässt. Eine Familie, die sich selbst kaum erträgt. Ein Freund, der den Schein nach außen aufrechterhalten zu versucht. Geschwister, bei denen der Zwiespalt der Liebe nicht fern ist. / Luisa Diehn, Tocht...