„Sind wir uns wirklich sicher, dass das echt ist? Wer weiß wer der wirkliche Vater ist", gibt Maxi schockiert von sich. „Der Brief ist auf kurz vor seinem Tod datiert. Wenn das echt ist..-" „Dann wäre das Kind jetzt fast drei Jahre alt", schlussfolgere ich mit Fabi und blicke verwirrt in das Regalfach, „Ist da noch mehr?"
Fabi nickt automatisch und nimmt weitere Briefe raus. Einer davon ist von Leo. Das ist seine Handschrift. Ich erkenne die linksbündige Schrift, die Vater und Mutter wahnsinnig gemacht hat. Er sollte damals lernen, gerade zu schreiben, doch er saß immer schräg zum Tisch.
„Liebste Selina, ich kann es kaum erwarten, bei dir zu sein. Luisa und ich fahren am Wochenende zu einem Event. Danach werde ich meinen Eltern von uns und unserem kleinen Wunder erzählen. Egal was passiert, ich halte zu euch", liest Fabi laut vor und sieht uns mit großen Augen an, „Fuck."
„Du sagst es. Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe", brummt Maxi unzufrieden und will damit den Schock, der ihm ins Gesicht geschrieben steht, überspielen. Ich starre weiter auf Leo's Handschrift. „Im Gegensatz zu uns konnte er wenigstens eine Beziehung führen", behaupte ich trocken, als ich weiterlese.
Das Kind ist von ihm. Zumindest, wenn er es wirklich glaubte. Nein, er glaubte es nicht nur. Fabi zieht unter dem Brief einen Schwangerschaftstest heraus. Der liegt so lose in dem Regal. Wie konnten wir das all die Jahre nicht sehen? Hätten wir uns nur einmal getraut, seine Sachen durchzusehen, wäre uns das vielleicht aufgefallen. Dann hätten wir unseren Neffen oder unsere Nichte auch viel früher kennenlernen können. Wenn wir das jetzt überhaupt können. Leo hat den Brief zwar adressiert, ob seine Selina da noch wohnt wissen wir allerdings nicht.
„Was ich mich frage", setzt Maxi nachdenklich an und wirft mir einen nervösen Blick zu, „Meinst du Vater und Mutter haben es gewusst?" Haben sie es gewusst? Nichts deutet darauf hin. Nichts außer die Tatsache, dass Mutter und Vater alles wissen. Egal was wir angestellt hatten und wie sehr wir versucht hatten, es zu verheimlichen, sie wussten immer Bescheid. Sie mussten es wissen.
Ich sehe Maxi ernst an und sofort stürmen wir mit Fabi an der Hand, der die Unterlagen fest bei sich hält, nach draußen und ins Büro unseres Vaters im Erdgeschoss. „Habt ihr es gewusst?", frage ich sofort laut und reiße Fabi die Unterlagen aus der Hand, um sie demonstrativ in die Höhe zu halten. Ich würde sie ihnen nicht geben, nicht dass sie das noch an sich reißen oder zerstören. Bei allem was schon passiert ist und wie zivilisiert sich unsere Eltern mittlerweile verhalten hätte ich gedacht, dass wir schon weiter gekommen sind.
„Maximilian, Luisa, woher-" „Ihr habt wohl falsch gedacht, wenn ihr der Ansicht wart wir würden Leo's Zimmer nicht mehr betreten", stelle ich sofort klar, „Was fällt euch ein ein solches Geheimnis vor uns wahren? Was habt ihr Leo und seiner Freundin erzählt? Habt ihr sie bestochen? Wieso verwehr man uns die Möglichkeit, ein Familienmitglied zusehen?" „Luisa, bitte beruh-"
„Einen Scheiß werd' ich!", zische ich sie wohl so wütend an wie noch nie in meinem Leben, „Leo's Kind ist da draußen irgendwo und drei Jahre alt. Wisst ihr denn überhaupt, ob es noch am Leben ist? Hat es ein gutes Zuhause, ein warmes Bett, ein Dach über dem Kopf? Ihr habt sie doch nicht etwa zur Abtreibung gezwungen?" Seit Jahren traue ich meinen Eltern alles zu. Aber würden sie so weit gehen?
„Luisa!", unterbricht mich mein Vater scharf, auch von Maxi ernte ich einen erschrockenen Blick. „Willst du mir nach allem was passiert ist wirklich einen Vorwurf für meine Interpretation deines Verhaltens machen?", hake ich skeptisch nach und ziehe meine Augenbraue in die Höhe.
„Wir verstehen, dass ihr aufgebracht seid und wissen um unsere Fehler aber wir würden nie ein Leben auslöschen wollen. Wir haben auch in diesem Fall einiges nachzuholen aber dem Kind sollte es gut gehen." Ich nicke Mutter leicht zu. „Kommt, wir gehen", bestimme ich direkt, sodass mich keiner abhalten kann und die Jungs zu mir ins Auto steigen. Ich kann nur hoffen, dass es unserer Nichte oder unserem Neffen gut geht..
„Wow, wie bescheiden", murmele ich, als Maxi und ich vor einem von vielen Hochhäusern stehen, während Fabi im Auto auf uns wartet. Dieser Teil der Stadt ist nicht meine Lieblingsgegend. Die höchste Kriminalitätsrate ist schon anhand der vielen Graffitis erkennbar. Ich habe nichts gegen Graffitis, nein, vielmehr bewundere ich diese Kunst, aber mich lässt der Gedanke nicht los, dass da an einer der Mauern statt roter Farbe Blut klebt. Maxi stimmt mir wortlos zu und sieht sich genauso skeptisch um.
„Hier ist wohl keiner mit der Möglichkeit eines Tennisplatzes im Garten aufgewachsen", murmele ich, als ich einen zerbrochenen Tennisschläger neben der Hauswand vorfinde. So löst man hier also Probleme.. „Überraschung, Luisa", schmunzelt Maxi. „Du hättest hier mit deiner Drogensucht auch enden können", kontere ich genervt.
Jedes Mal wenn ich daran denke bin ich eher genervt, weil ich die immer noch nachwirkende Angst um mich Maxi nicht so leicht verkraftet habe. „Hier ist es." Maxi zeigt auf die Tür vor uns. Drittes Stockwerk. Gut, immerhin nicht so einbruchsgefährdet wie eine Erdgeschosswohnung. Bei unserem Anwesen ist das aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen irrelevant. Skeptisch drücke ich auf die Klingel. Was wenn sie hier gar nicht mehr wohnen? Es ist viel zu viel Zeit vergangen.. Mein Herz pocht immer schneller, als wir Schritte hören.
„Sie dürfen die Pakete doch-", hören wir eine weibliche Stimme, die sofort verstummt, als sie uns hinter der Tür entdeckt, „Ihr seid hier leider falsch." Sie will schon die Tür vor unserer Nase zuschlagen, da stellt sich Maxi ihr in den Weg. Wir werfen uns einander einen wissenden Blick zu. Das ist sie und hier muss irgendwo auch unser Neffe oder unsere Nichte sein.
Wieso reagiert sie so abneigend? Kennt sie uns? Weiß sie was los ist bei uns? Na klasse. Dann kann ich es ihr nicht verübeln, dass sie die Tür schließen will. Trotzdem.. so schnell? Ungewohnt. Unschön. Wir sind nicht perfekt aber sie muss offensichtlich ein großes Problem mit uns haben. „Ich denke nicht", meint Maxi schlicht und stellt seinen Fuß in die Tür, um sie dann mit seiner Hand weiter zu öffnen. „Wir dürfen doch, richtig?"
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ANOTHER LOVE
RomanceEine flüchtige Bekanntschaft, die Spuren hinterlässt. Eine Familie, die sich selbst kaum erträgt. Ein Freund, der den Schein nach außen aufrechterhalten zu versucht. Geschwister, bei denen der Zwiespalt der Liebe nicht fern ist. / Luisa Diehn, Tocht...