Natürlich gibt Alice sich beim Abendbrot wie der netteste Mensch der Welt und meine Mutter ist hellauf begeistert.
Ich übersetze für meine Schwester, damit sie auch etwas vom Gespräch mitbekommt, doch die beiden scheinen sich auch ziemlich schnell durch Gesten verständigen zu können. Finja bekommt Alice sogar dazu überredet nach dem Abendbrot eine Runde „Mensch ärgere dich nicht" mit ihr zu spielen und natürlich muss ich auch mitspielen. Meine Schwester hat riesigen Spaß und man muss Alice lassen, dass sie gut mit ihr umgeht. Sie lacht viel und ärgert sich gestellt, als sie von Finja rausgeworfen wird. Es gibt nur wenige Menschen, bei denen Finja so schnell auftaut und es gefällt mir nicht, dass Alice dazu gehört. Andererseits erinnere ich mich zu gut daran, dass ich ihr auch sofort von meiner Familie erzählt habe. Sie scheint etwas an sich zu haben, dass anderen Menschen ein gutes Gefühl gibt. Zumindest so lange bis sie entscheidet plötzlich scheiße zu dir zu sein.
Ich bin froh als das Spiel vorbei ist und ich Finja ins Bett bringen kann. Ich lese ihr noch etwas vor und gebe ihr dann einen Kuss. „Schlaf gut, Flips." Sie lächelt müde und greift nach meiner Hand. „Ich mag Liz", murmelt sie und ich kann nicht anders als darüber zu schmunzeln, dass sie bereits einen Spitznamen für Alice hat. Meine Schwester ist das süßeste Wesen auf diesem Planeten. Ich decke sie nochmal gut zu und schließe dann leise die Tür hinter mir. Als ich ins Bad will, kommt mir Alice entgegen und sie schaut auf den Boden, sodass sie fast gegen mich läuft. Im letzten Moment sieht sie auf und zuckt erschrocken zusammen. Sie weicht zur Seite aus und ich hebe abwehrend meine Arme. „Ich berühre dich schon nicht", sage ich genervt und verkneife mir, noch eine Beleidigung anzuhängen. Was ist bitte ihr Problem? Kurz sieht sie aus, als wollte sie etwas sagen, doch dann lässt sie es doch sein und geht an mir vorbei. Ich schüttele nur den Kopf und hoffe inständig, dass ich die nächsten Wochen irgendwie überlebe.
Wie jeden Samstagmorgen werde ich davon geweckt, dass Finja auf mir herumspringt. „Noch fünf Minuten", grummele ich, doch sie rüttelt weiter an mir. „Liz will Kaffee", quengelt sie und ich stöhne genervt. Trotzdem schleppe ich mich aus dem Bett und ziehe mir eine Jogginghose und ein halbwegs gescheites Shirt an. Mit Finja an der Hand schlurfe ich in die Küche, wo Alice bereits am Tisch sitzt und wartet. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, es ist gerade mal acht. „Stehst du immer so früh auf?", frage ich gähnend, doch sie zuckt nur die Achseln. „Ich habe normalerweise um acht Training samstags", erklärt sie und ich verkneife mir einen blöden Kommentar.
Ich stelle mir automatisch vor, dass ihre Familie peinlichst auf Manieren und Anstand pocht. Wieder einmal bin ich erleichtert, dass ich diesen Austausch nicht mitmache. Sie sieht heute Morgen etwas weniger arrogant aus als bisher, weil sie weniger geschminkt ist und ein Shirt trägt, dass ich so auch anziehen würde. Ich setze Kaffee auf und mache einen Kakao für meine Schwester. Finja sitzt bei Alice und erzählt ihr auf Deutsch von ihrem Lieblingsfilm. Hilfesuchend sieht meine Austauschschülerin mich an, weil sie natürlich kein Wort verstehen kann. Ich überlege kurz, einfach zu übersetzen, doch dann kommt mir eine bessere Idee.
„Sie sagt, dass du ihr auf die Nerven gehst", sage ich auf Englisch und Alice verdreht direkt die Augen. „Ich bin nicht freiwillig hier, falls du es vergessen hast", erwidert sie und lächelt meine Schwester dann unschuldig an. Ich ignoriere ihre Aussage einfach und frage: „Milch? Zucker?" Sie schüttelt nur den Kopf, weshalb ich ihr den schwarzen Kaffee so hinstelle. „Danke", murmelt sie und ich nicke. Finja trinkt fröhlich ihren Kakao und bringt dann einen weiteren Kaffee ins Schlafzimmer zu meiner Mutter. Ich setze mich zu Alice an den Tisch und mustere sie für einen Moment. Dann seufze ich und meine: „Wenn wir jetzt eh schon wach sind, willst du irgendwas Bestimmtes machen oder sehen? Wir haben ein paar schöne Parks und Schlösser."
Sie sieht auf und in ihren Augen glänzt leichte Neugierde. „Wo gehst du gerne hin?", fragt sie und ihr Ausdruck ist irgendwie freundlicher als zuvor. Ich ziehe prüfend meine Augenbrauen zusammen und entgegne: „Es geht nicht um mich." Alice seufzt und streicht an ihrer Tasse entlang. „Ich kann auch Finja fragen, wo sie gerne hingeht", sagt sie und auch wenn ich heraushöre, dass sie es als Spaß meint, trifft es einen wunden Punkt bei mir. Ich werfe ihr einen warnenden Blick zu und greife dann nach meinem Handy, um Nat zu schreiben, was sie heute geplant haben. Erstaunlicherweise ist sie ebenfalls schon wach, das scheint wohl in der Familie zu liegen. Sie schreibt mir, dass sie mit Per ins Schwimmbad gehen wollte und wir gerne mitkommen können. Ich bin erleichtert, dass ich nicht den ganzen Tag allein mit Alice verbringen muss und sage direkt zu. „Wir gehen nachher ins Schwimmbad", sage ich zu ihr und sie nickt nur.
Da wir uns wohlnicht mehr zu sagen haben, schnappe ich mir ein Glas Orangensaft und lasse mich aufs Sofa sinken. Unsere Küche und das Wohnzimmer sind ein Raum, sodass Alice auch vom Küchentisch aus den Fernseher sehen kann. Ich mache Modern Family an und lasse es extra auf Englisch laufen, damit sie es auch versteht. Alice macht keine Anstalten aufzustehen, schmunzelt aber hin und wieder über die Serie. Als Finja und meine Mutter wiederkommen, frühstücken wir zusammen und lassen währenddessen das Frühstücksfernsehen laufen, das meine Mutter gerne schaut. Wir reden nicht viel, aber die Stimmung ist trotzdem angenehm und Alice lächelt auch wieder mehr.
Es wirkt ehrlicher als gestern Abend und vielleicht reicht das ja schon, um es erträglich zu machen.
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Only the rain knows
RomanceKyra ist seit sie denken kann verknallt in ein Mädchen, das nicht mal weiß, dass sie existiert. Sie ist zu schüchtern, um den nächsten Schritt zu wagen, als aus dem Nichts jemand in ihr Leben tritt, der alles verändern wird. Es ist sehr viel leicht...