46.

966 65 3
                                    

Caleb schiebt mir schüchtern einen Cocktail herüber, nachdem wir schon einige Minuten bei den Jungs stehen. Er lächelt schief und ich weiß, dass es ihm wirklich leidtut, dass er uns unterbrochen hat.

„Alles gut", sage ich ihm und nehme den Cocktail, den er extra mit einem Schirmchen verziert hat. Er nickt mir dankbar zu und winkt dann Toby her, um ihn zu einem Match herauszufordern. „Ich und Nat gegen euch beide", sagt er und zeigt dabei auf die beiden Minitore auf dem Rasen. Ich muss über seinen Einfall lachen, weil Nat eine grottenschlechte Fußballerin ist. Toby grinst mich an, er hat sich eine Sporthose von Caleb geliehen, nachdem seine durch ungeklärte Umstände nass wurde. „Das ist zu einfach", meint er, doch Caleb verschränkt seine Arme vor der Brust. „Babe, die beiden denken ernsthaft, sie hätten eine Chance gegen uns", ruft er Nat zu, die direkt lacht. Sie schnappt sich den Ball, der neben dem Pool liegt und läuft mit ihm in Richtung eines der Tore. „Es geht los", meint Caleb, um sich einen unfairen Vorteil zu verschaffen.

Schnell laufen wir um die Bar herum und Toby erreicht Nat beinahe. Allerdings schießt sie meilenweit vorbei, sodass es doch nicht zu einem Nachteil für uns wird. Ich muss lachen und bekomme dafür direkt einen herausfordernden Blick von Nat, die noch immer einen Becher Bier in der Hand hält. Toby spielt mir den Ball zu und ich warte darauf, dass Nat mich angreift, um sie dann mit Leichtigkeit zu tunneln. Lachend laufe ich an ihr vorbei und lupfe den Ball über Caleb zu Toby, der ihn Volley in das kleine Tor hämmert. Er verbeugt sich dramatisch vor seinem Kumpel und sagt: „Bitte, bitte, die Standing Ovation ist wirklich zu viel." Lachend klatsche ich mit ihm ab und tue so, als hätte ich großes Mitleid mit Nat.

„Okay Baby, so wie wir es geübt haben", meint Caleb zu ihr und sie nickt direkt. Sie läuft sich frei und ich decke sie, doch statt auf den Ball zu warten, springt sie auf meinen Rücken und ringt mich zu Boden. „Ey", beschwere ich mich und versuche mich unter ihr zu befreien, was scheinbar lustig genug aussieht, um Toby zum Lachen zu bringen. Er ist einen Moment lang unaufmerksam und kommt dadurch nicht mehr hinter Caleb hinterher, der die Kugel mit Leichtigkeit einschiebt. „Im Ernst?", frage ich ihn, nachdem Nat mich wieder freigegeben hat, doch er zuckt nur lachend die Achseln. Wir spielen weiter und es wird schwerer ein Tor zu schießen, weil Caleb auch anfängt unfair zu spielen. Am Ende hat das Spiel mehr mit Wrestling als mit Fußball zu tun. Bei einer von Nats Attacken weiche ich geschickt aus und stelle ihr ein Bein, sodass sie stolpert und nicht mehr rechtzeitig den Schwung abbremsen kann, sodass sie in den Pool fällt. Caleb schafft es vor lachen kaum noch zu stehen, was Toby ausnutzt, um das Siegtor zu erzielen.

Als Nat wieder auftaucht, zeigt sie mir ihren Mittelfinger und ruft: „Du bist eine Bitch, Kyra Maria Waldhoff." Ich verdrehe die Augen darüber, dass sie meinen vollen Namen benutzt, muss aber auch immer noch über ihren Sturz grinsen. Einige der anderen haben unser Spiel verfolgt und ich spüre zwei Blicke auf mir. Victorias, der so offensiv flirtend ist, dass ich sofort rot anlaufe. Und der von Alice, aus dem man nicht viel lesen kann. Ich versuche sie zu ignorieren und klatsche mit Toby ab, der mir lächelnd eine Dose Cola reicht, um meinen Durst zu löschen.

„Ziemlich gute Show", ertönt eine Stimme hinter mir und als ich mich umdrehe, steht da Victoria. So umwerfend wie immer und mit genug Selbstbewusstsein, genau zu wissen, wie sie auf andere wirkt. „Danke", sage ich nervös, weil ich in ihrer Nähe noch nie wirklich entspannt war. Sie lächelt nur auf die Weise, auf die sie sonst oft dafür sorgt, dass Menschen um sie herum ihren Willen erfüllen und meint: „Du hast dir eine Belohnung verdient." Bevor ich reagieren kann, tritt sie einen Schritt auf mich zu und legt ihre Lippen auf meine. Vollkommen erstarrt, schaffe ich es nicht, sie von mir zu stoßen. Wie könnte ich auch nach so vielen Jahren, in denen ich mir genau das vorgestellt habe.

Ich spüre ihre Hand auf meiner Wange, sie fühlt sich viel weicher an als die von Alice. Fuck, warum denke ich jetzt an Alice. An ihre raue Hand an meinem Hals, ihre Lippen an meinem Ohr, ihren Duft. Für einen Moment schafft es mein Gehirn tatsächlich mir vorzugaukeln, ich würde gerade Alice küssen. Leider führt das auch dazu, dass ich die Bewegung für einen Augenblick erwidere. Als Victoria sich von mir löst, komme ich zurück in die Realität und spüre, wie ich rot anlaufe. Um uns herum jubeln einige Leute und Victoria lächelt zufrieden. Sie hat mich tatsächlich vor all diesen Leuten geküsst. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und ich würde am liebsten im Erdboden versinken.

Es mag sein, dass ich mir jemanden wünsche, der mich nicht versteckt. Allerdings möchte ich trotzdem jemanden, der mich gut genug kennt, um zu wissen, dass ich ein introvertierter Mensch bin. Ich würde niemals wollen, dass etwas Intimes wie ein erster Kuss vor so vielen Menschen stattfindet. Die Situation überfordert mich komplett, doch Victoria scheint das gar nicht zu merken. Sie geht wieder zu ihren Freundinnen, die ganz begeistert von ihrer Aktion sind. Ich kann mich noch immer nicht bewegen und suche hilfesuchend nach Nat. Stattdessen trifft mein Blick auf Alice, die auf der anderen Seite des Pools steht und noch blasser ist als sonst. Ihr Ausdruck ist auf gewisse Weise traurig und ich spüre sofort, dass es mich nicht kalt lässt. Ich will ihr am liebsten zurufen, dass ich den Kuss kein bisschen genossen habe. Allerdings würde sie das nicht wollen. Sie will nicht, dass wir in der Öffentlichkeit miteinander reden, also tue ich ihr diesen Gefallen.

Eine Hand greift nach meinem Handgelenk und ich bin erleichtert, als Nat mich zu den Jungs zieht. „Soll ich ihr eine reinhauen?", fragt Nat mich prüfend und mustert besorgt mein sicherlich noch immer rotes Gesicht. Ich schüttele den Kopf und weiß selbst nicht genau, was ich will. „Scharf", meint Toby als wir bei ihnen ankommen, woraufhin ich die Augen verdrehe. „Babe, kannst du ihn irgendwohin bringen, wo ich ihn nicht umbringen kann?", fragt Nat ihren Freund mit einem extra freundlichen Lächeln. Caleb nickt direkt und schubst Toby weg, der keine Ahnung hat, was er falsch gemacht haben soll. Nat hält mich an meinen Schultern fest und mustert mein Gesicht einen Moment lang, um dann an mir vorbei zu Victoria zu sehen. Für sie scheint die Party ganz normal weiterzugehen, da die Shisha schon wieder schön am Qualmen ist.

„Ich glaube ich weiß jetzt, was du meintest", murmelt Nat und fügt hinzu: „Sie ist nicht das, was du brauchst." Langsam erhole ich mich von meinem Schock und lehne mich seufzend auf die Bar. „Ich glaube, ich will einfach heim", murmele ich und Nat nickt nachdenklich. Sie bestellt mir ein Taxi und will mich zur Tür bringen, doch ich sage ihr, dass sie weiterfeiern soll. Widerwillig geht sie zurück zu den anderen, nachdem ich ihr versprochen habe, dass ich ihr schreibe, sobald ich zuhause bin. Erschöpft dränge ich mich durch die vielen Leute im Haus und bin schon fast an der Tür, als sich eine Hand um mein Handgelenk schließt.

Ich schwöre, ich werde Vicky eine reinhauen, wenn sie heute nochmal so etwas mit mir macht. Allerdings ist die Hand rauer und gehört zu dem anderen Menschen, der mir meinen Abend heute versaut hat. Alice steht vor mir und ich kann genau sehen, dass sie mal wieder mit sich selbst kämpft. „Kann ich...", fängt sie an, verstummt jedoch direkt wieder und fummelt nervös an der Flasche in ihrer Hand herum. „Können wir...", will sie erneut anfangen, doch ich halte sie auf, indem ich meine Hände hebe. „Nicht heute, okay? Ich will nur heim", sage ich müde und sehe ihr in die Augen. Sie zögert einen Moment, nickt dann aber und haucht: „Komm gut heim." Ich nicke dankbar und will schon gehen, als ich eine weitere Person hinter Alice sehe, die wohl auf der Suche nach mir ist. Vicky erkennt mich und sofort fängt mein Herz wieder an zu rasen.

Panisch schaue ich zu Alice und sie scheint die Situation erstaunlich schnell lesen zu können. Sie kann Vicky nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen, passt aber trotzdem den perfekten Moment ab, um sich schwungvoll zu drehen und ihre Uhr wuchtvoll gegen Victorias Stirn zu hauen. „Fuck", schreit Vicky auf und hält sich die Stirn. Es sind die wenigen Sekunden, die ich brauche, um abzuhauen. Trotzdem schaue ich noch kurz zu Alice, die mich eindeutig etwas zu gut kennt. „Geh schon", formt sie mit ihren Lippen und ich tue, was sie sagt. Ich höre noch, wie sie sich bei Victoria entschuldigt und ihr vorschlägt ein Kühlakku zu holen, dann bin ich draußen auf der Straße.

Endlich Ruhe, endlich keine Menschen mehr. Das Taxi kommt zum Glück gerade um die Straßenecke, sodass ich flüchten kann. Ich lehne meine Stirn gegen das Fenster des Autos und weiß nicht, wie das alles passieren konnte. Ich hatte wirklich gedacht, dass ich heute etwas Schönes erleben würde. Wieder einmal wurde ich von meiner Intuition enttäuscht. Dieser Abend war besonders, besonders scheiße.


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt