6.

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Der nächste Tag läuft mehr oder weniger an mir vorbei, weil er vor allem aus irgendwelchen Reden unserer Lehrer besteht.

Die Austauschschüler*innen werden überall vorgestellt und können sich ein erstes Bild von der Schule machen. Ich laufe die meiste Zeit mir Nat und Per herum und merke, dass der Schwede ein sehr angenehmer Mensch ist. Er redet nicht ununterbrochen, weiß aber sehr genau wie er Konversation treiben kann. Er fragt mich hin und wieder Dinge, ist dabei aber nie taktlos oder zu persönlich. Nats Humor ist für ihn vielleicht etwas zu sarkastisch, doch er lacht mindestens aus Anstand immer. Calebs Austauschschüler Ole ist ein ziemliches Gegenteil von Per, doch sie verstehen sich ausgezeichnet. Auch Tobys Austauschpartner Mik ist hin und wieder bei unserer Gruppe dabei und ich kann mich daran erinnern, dass er bei „Ich hab noch nie" auch getrunken hat.

Es ist lustig ihn und Toby zusammen zu sehen, weil eindeutig ist, dass Toby mit ihm überfordert ist. Er ist auf keinen Fall homophob, aber er ist ein Prolet und es fällt ihm schwer, eine weichere Seite zu zeigen. Bei meinem Outing damals fand er es einfach nice, dass er jetzt mit mir über Mädchen reden kann. Mit einem offen schwulen Jungen zusammen zu wohnen, scheint ihn schon jetzt an seine Grenzen zu bringen. Mik wirkt sehr humorvoll und er nutzt Tobys Unsicherheit hin und wieder gekonnt aus. Tatsächlich ist es sehr lustig, den beiden dabei zu zusehen, wie sie miteinander umgehen.

Normalerweise würde Kristen auch mit uns unterwegs sein, doch sie orientiert sich an Alice, die bei ihren schwedischen Freundinnen bleibt. Die meisten von ihnen sind bei Victoria und ihren Freundinnen untergebracht. Ausnahmsweise bin ich erleichtert, dass wir wenig mit Victoria zu tun haben.

Nach der Schule fahre ich mit dem Bus zur Grundschule meiner Schwester und warte am Schultor auf sie. Als die kleine Maus auf mich zuläuft, erhellt sich meine Laune sofort und ich merke, dass ich sie in den letzten Wochen wirklich vermisst habe. Ihr Schulranzen wippt bei jedem ihrer Schritte und sieht immer noch so aus, als wäre er genauso groß wie sie selbst. Als wir ihn gekauft haben, hat sie darauf bestanden, dass es der mit den Walen drauf sein musste. Ich knie mich hin und öffne meine Arme, um sie hochheben zu können. Finja schlingt sofort ihre Arme um meinen Hals und schmiegt sich an mich.

„Hey, kleiner Racker", begrüße ich sie und gebe ihr einen Kuss auf die warme Wange. Als ich sie wieder runterlasse, nimmt sie meine Hand und fängt direkt an, von der Schule zu erzählen. Manchmal glaube ich, dass sie all die Worte, die sie in der Schule nicht herausbekommt für mich aufspart. Finja ist ein schlaues Mädchen und sie hat durchaus auch den Drang, sich mitzuteilen. Genauso wie ich, ist sie allerdings sehr dünnhäutig und schüchtern, weshalb sie noch nicht viele Freunde gefunden hat. Ich hätte mir immer gewünscht, dass Natasha eine Schwester hätte, die meiner so zur Seite stehen könnte wie sie es bei mir tut. Ich versuche mein Bestes, ein gutes Vorbild für Finja zu sein, doch es fällt mir nicht leicht.

Auf dem Weg nach Hause erzählt sie mir von ihrer netten Klassenlehrerin, mit der sie heute etwas gebastelt haben. Zuhause angekommen mache ich meiner Schwester etwas zu essen und übe dann ein bisschen Lesen mit ihr. Das Wetter ist so gut heute, dass Finja mich überredet mit ihr auf der Straße vor unserem Haus Fußball zu spielen. Sie ist mir in vielen Dingen so ähnlich und die Liebe zum Fußball ist eins davon. Wir hören Musik und ich hole uns Limonade raus für eine kleine Pause. Wenn ich es schaffe, meine Schwester glücklich zu machen, überträgt sich ihre Freude immer automatisch auf mich. Normalerweise würde ich Nat anrufen und sie einladen, vorbeizukommen, doch sie geht heute mit den anderen in eins unserer bekannten Museen. Ich hätte sie sicherlich begleiten können, doch ich wollte nicht.

Meine Mutter kommt von ihrem Gespräch wieder, als Finja gerade auf mich zu gedribbelt kommt. Sofort winkt sie ihr zu und ruft: „Langer Pass." Meine Schwester spielt den Ball zu meiner Mutter und ich schaffe es nur in letzter Sekunde, ihn von der Linie zwischen unseren aufgestellten Flaschen zu kratzen. „Och man", beschwert sich Finja, doch meine Mutter nimmt sie in den Arm und entschuldigt sich für ihren schwachen Schuss. Sofort ist meine Schwester wieder glücklich und ich kann beiden ansehen, wie sehr sie sich vermisst haben. Mein Herz wird warm, wenn ich sie zusammen sehe, doch der Moment wird von meinem Handy zerstört.

Ich laufe schnell zu meiner Jacke, die auf dem Boden liegt und fische mein iPhone aus der Jackentasche. Es ist Kristen und als ich rangehe, höre ich ihrer Stimme an, dass etwas nicht stimmt. „Hey Kyra, ich würde nicht fragen, wenn es nicht dringend wäre", fängt sie an und mir schwant schon Übles. „Meine Eltern sind doch gerade erst wieder aus dem Urlaub gekommen und sie haben sich vorhin an der Arbeit testen müssen. Sie haben Corona und müssen in Quarantäne." Ich sage ihr gute Besserung für sie, kapiere aber erstmal nicht, wie ich ihr da helfen kann. „Es kann gut sein, dass ich mich schon angesteckt habe, Alice kann jedenfalls nicht hier bleiben", fügt sie hinzu und da kapiere ich, worauf sie hinaus will.

Sofort spannt sich mein Körper an und ich drehe mich von meiner Mutter und meiner Schwester weg. „Gibt es niemand anderen, den du fragen kannst? Kann Nat sie nicht noch aufnehmen?", frage ich leicht verzweifelt. Kristen seufzt: „Das habe ich schon versucht, aber ihr Vater will es nicht." Ich schnaube leicht, weil ich genau weiß, dass das eine Lüge ist. Nats Vater würde nie ein Problem damit haben noch fünfzig weitere Kinder aufzunehmen. Nat will, dass ich Alice bei mir wohnen lasse, weil sie denkt, dass ich eine Austauschschülerin gut gebrauchen kann. Hätte sie nur eine Ahnung, wie falsch sie damit liegt. Mein Blick fällt auf meine Mutter, die gerade mit meiner Schwester nach drinnen läuft. Wir haben doch überhaupt keinen Platz für noch eine Person in unserer kleinen Wohnung. „Bitte, Kyra. Ihr habt euch auf der Party doch gut verstanden. Du bist meine letzte Hoffnung", sagt Kristen und klingt dabei verzweifelt genug, um mein Mitleid zu erregen.

Ich seufze resigniert und fälle wahrscheinlich die dümmste Entscheidung, indem ich sage: „Okay."


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt