Am Freitag holen wir nach der Schule wieder meine Schwester ab, doch sie kommt ausnahmsweise nicht direkt beim Klingeln aus der Tür. Nach weiteren fünf Minuten werde ich etwas unruhig und sage Nat, dass ich kurz reingehe und nachschaue.
„Kann ich mitkommen?", fragt Alice und da ich nicht wüsste, was dagegen sprechen würde, nicke ich. Ich weiß den Weg zu Finjas Klasse auswendig, doch dort finden wir niemanden. Als wir über einen anderen Gang nach draußen gehen, kann ich von weitem die grüne Jacke meiner Schwester sehen. Sie sitzt in einer Ecke und ich kann schon von einigen Metern Entfernung erkennen, dass sie geweint hat. „Hey, Flips", sage ich und knie mich zu ihr. Sie schaut kurz zu mir auf, vergräbt dann aber ihr Gesicht in ihren Händen. „Was ist passiert?", frage ich, doch sie schüttelt nur den Kopf. Seufzend streiche ich über ihren Kopf, sie erinnert mich an mich selbst früher. Mehrmals versuche ich sie dazu zu bringen, zu reden, doch sie blockt weiter ab.
Alice mustert uns und fragt dann: „Kann ich was probieren?" Ich bin nicht ganz überzeugt, nicke aber trotzdem, weil ich selbst keine Idee habe. Sie setzt sich neben Finja an die Wand und erzählt dann: „Als ich in deinem Alter war, haben mich mal welche aus der Parallelklasse jeden Tag nach der Schule geärgert. Es hat mich ziemlich traurig gemacht, doch irgendwann hat es aufgehört. Als ich dann später eine von ihnen wiedergesehen habe, hat sie gesagt, dass sie es nur gemacht haben, weil sie neidisch auf mich waren." Ich übersetze für meine Schwester und sie schaut Alice mit großen Augen an. „Sie waren neidisch darauf, dass ich ich selbst war und sie es sich nicht getraut haben", fügt sie hinzu und ich wiederhole ihre Worte auf Deutsch.
Meine Schwester wirkt misstrauisch, doch als Alice ihr ihre Hand hinhält, nimmt sie sie. „Hab dich lieb", sagt sie mit ihrem schwedischen Akzent und mein Herz wird so warm, dass ich glaube, es stünde in Flammen. Sie hat mich gestern gefragt, was das, was ich immer zu meiner Schwester sage, bedeute und es sich wieder gemerkt. Sofort strahlen die Augen meiner Schwester und sie springt auf, als Alice aufsteht. Zusammen laufen wir aus dem Gebäude und als Finja Nat sieht, läuft sie fröhlich vor zum Auto. Ich halte Alice kurz an ihrem Handgelenk fest, sodass sie sich zu mir dreht und meine: „Danke." Sie lächelt warm und nickt leicht.
Bevor sie sich wieder umdrehen kann, frage ich: „Ist die Geschichte wahr?" Ich weiß nicht, warum ich wieder mal probiere, sie nach so etwas zu fragen, wo sie normalerweise immer zumacht, sobald es um ihre Familie oder ihr Leben zuhause geht. Diesmal nickt sie jedoch langsam und schaut mich dann an, als sie meint: „Ich war allerdings nicht das Opfer."
Verdutzt weiten sich meine Augen, doch Alice dreht sich um und folgt meiner Schwester zum Auto. Für einen Moment bleibe ich stehen und schaue ihr hinterher. Es passt so gut zu ihr, dass sie jemand ist, der sich über andere lustig gemacht hat. Es passt so gut zu der Person, die sie bei ihren Freundinnen ist. Gleichzeitig passt ihre Geste vor meiner Schwester so gut zu der Person, die sie ist, wenn wir zu zweit sind. Sie hätte mir nicht die Wahrheit erzählen müssen und doch hat sie es getan. Obwohl sie bestimmt weiß, wie sehr ich früher Leute wie sie verabscheut habe. Als ich im Auto neben ihr Platz nehme, spielt sie bereits etwas mit meiner Schwester, die längst wieder übers ganze Gesicht strahlt.
Am späten Nachmittag bekomme ich eine Nachricht von Kristen, in der sie schreibt, dass Alice ab morgen wieder bei ihr wohnen kann. Ich versuche mir einzureden, dass ich mich freue, doch es klappt nicht wirklich. Irgendwie habe ich mich ziemlich an die Schwedin gewöhnt. Als ich durch den Flur gehe, muss ich wieder daran denken, was sie heute für meine Schwester getan hat und gehe kurzerhand zu ihrer Tür. Ich klopfe zwei Mal und nach wenigen Sekunden ertönt ihre Stimme von drinnen. Als ich die Tür öffne, sehe ich Alice auf meinem Bett liegen und etwas auf einen Block kritzeln. Sie grinst leicht, als sie mich erkennt, widmet sich aber sofort wieder dem Block. „Was gibt's?", fragt sie und irgendwie gibt es mir ein angenehmes Gefühl, dass sie so entspannt mit meiner Anwesenheit ist. Ich bin wohl nicht die Einzige, die sich an unsere Situation gewöhnt hat. Kurz überlege ich, ihr von Kristens Nachricht zu erzählen, doch schließlich entscheide ich mich dagegen. „Du wolltest doch, dass ich dir meinen Ort zeige", meine ich und bekomme dadurch sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Alice legt den Block weg und richtet sich auf: „Im Ernst?" Ihr Blick ist so hoffnungsvoll, dass ich fast grinsen muss.
Ich nicke und meine: „Zieh dir eine Jacke an, könnte kühler werden."
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Only the rain knows
RomanceKyra ist seit sie denken kann verknallt in ein Mädchen, das nicht mal weiß, dass sie existiert. Sie ist zu schüchtern, um den nächsten Schritt zu wagen, als aus dem Nichts jemand in ihr Leben tritt, der alles verändern wird. Es ist sehr viel leicht...