57.

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Das Abendessen verläuft in etwa genauso, wie ich es mir vorgestellt habe.

Anna und Markus stellen uns Fragen über unsere Hobbys und Zukunftsvorstellungen und die ganze Familie hat beste Manieren. Es gibt Vor- und Nachspeise und das Essen schmeckt unglaublich gut. Trotzdem ist sie ganze Situation auf gewisse Weise angespannt und ich muss mich wirklich überwinden, das Essen herunterzubekommen. Kristen scheint in dem Ganzen aufzugehen, während Nat ausnahmsweise auch eher Beobachterin ist. Alice sitzt mir gegenüber und zeigt über das ganze Essen hinweg keine Emotionen. Als ihr Vater sich nochmal dafür bedankt, dass ich sie bei mir aufgenommen hat, lächele ich möglichst ehrlich und meine: „Das war wirklich kein Problem." Anna bedankt sich ebenfalls und blickt mich dann interessiert an, während sie ihr Fleisch durchschneidet.

„Es kann sein, dass ich mich täusche, aber du hast doch vorhin einen Ring getragen", sagt sie und mein Blick trifft sofort auf den von Alice. Ich spüre, wie ich leicht rot werde und nicht wirklich weiß, was ich darauf antworten soll. „Er hat mir gut gefallen, deshalb frage ich", ergänzt Anna und macht mir meine Antwort damit nicht leichter. Wenn ich zugebe, dass ich diesen Ring besitze, will sie ihn am Ende noch sehen und wird erkennen, dass es einer aus ihrer Kollektion ist. Mein Gehirn setzt für einen Moment völlig aus, doch da klinkt sich Alice zum ersten Mal in das Gespräch ein.

„Kyra fand meinen Ring so schön, dass sie sich das gleiche Modell gekauft hat bei einem eurer Online-Anbieter", erklärt sie trocken und Anna schluckt diese Ausrede sofort. Sie muss sehr überzeugt von ihrem Schmuck sein. „Das freut mich zu hören", sagt sie lächelnd und ich erwidere das Lächeln so gut ich kann. Neben mir verschluckt Kristen sich und muss erst etwas Wasser trinken, bevor sie mich auf Deutsch fragt: „Du hast dir einen Alice Ring gekauft?" Fuck, warum kennt eigentlich jeder diese Marke? Natürlich weiß Kristen über meine Situation Bescheid und auch, dass ich niemals so viel Geld für ein Schmuckstück ausgeben würde. Ein Glück habe ich die beste Freundin auf der Welt, die sofort für mich in die Presche springt und meint: „Ich habe ihn ihr geschenkt." Sie sagt es mit einer solchen Überzeugung, dass Kristen es sofort glaubt und das Thema glücklicherweise vom Tisch ist. Ich ignoriere Alice Blick auf mir und bin erleichtert, als das Abendessen nach guten zwei Stunden schließlich vorbei ist.

Nat ist von dem Flug leider so gerädert, dass sie nur noch kurz mit Caleb telefoniert und sich dann ins Bett verabschiedet. Sie drückt mir am Fuß der Treppe einen Kuss auf die Wange und flüstert mir zu: „Schrei, wenn du mich brauchst." Ich schmunzele leicht und wünsche ihr eine gute Nacht. Kristen verkrümelt sich gleich mit ihr, sodass es keinen Sinn für mich hat, noch im Erdgeschoss zu bleiben. Alice ist nach dem Abendessen irgendwohin verschwunden und Per wollte uns Zeit geben, um richtig anzukommen.

In meinem Zimmer setze ich mich auf das große Bett und atme einen Moment lang nur tief ein und aus. Dieser Tag hat mich völlig überfordert und ich weiß nicht, wie ich das mehrere Wochen lang aushalten soll. Ich ziehe den Ring aus meiner Hosentasche und lasse mich auf die Matratze fallen. Langsam drehe ich das Schmuckstück in meinen Händen und frage mich, was Alice von mir erwartet. Sie hat gesagt, dass ich sie nicht hassen soll und es war leicht, ihr das zu versprechen. Ich hasse sie nicht, nicht mal ein bisschen. Trotzdem bin ich wütend auf sie und unglaublich enttäuscht. Sie ist der einzige Grund, warum ich hier bin und gleichzeitig auch der Grund, warum es mir so schwerfällt, hier zu sein. Genervt schmeiße ich den Ring auf mein Kopfkissen und ziehe mir mein Shirt über den Kopf.

Ich ziehe mir ein Schlafshirt und eine kurze Hose an und gehe dann mit meiner Zahnbürste ins Bad. Natürlich steht Alice dort vorm Spiegel und ist gerade dabei, sich abzuschminken. „Sorry", murmele ich und will wieder gehen, doch sie sagt: „Du kannst ruhig bleiben, alles gut." Ich überlege kurz, ob das eine gute Idee ist, doch letztendlich besiegt meine Müdigkeit meine Zweifel und ich stelle mich neben sie. Ich mache mir Zahnpasta auf meine Zahnbürste und lehne mich dann mit dem Rücken gegen die Wand, um möglichst viel Abstand zu Alice zu halten. Sie beobachtet mich im Spiegel und fragt dann: „Wie war der Flug?" Ich runzele leicht die Stirn und frage mich, ob sie jetzt echt Smalltalk mit mir führen will.

Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt