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Nach dem Frühstück will Kristen gerne Pers Zimmer sehen und wir lassen ihnen etwas Zeit zu zweit.

„Ich zeig euch was cooles, das Kerstin sowieso nicht schätzen würde", meint Alice zu uns und Nat schmunzelt über den falschen Namen. Wir ziehen uns um und treffen Alice dann an der Haustür wieder. Sie trägt eine schwarze Hose und wie immer weiße Sneaker, die nicht einen Kratzer haben. Ich wollte sie schon immer mal fragen, wie viele Paare sie davon besitzt. Sie wedelt mit dem Autoschlüssel vor sich herum und nickt Nat zu: „Lust zu fahren?" Sofort werden Nats Augen größer und sie schnappt sich grinsend den Schlüssel. Ich lächele Alice an und sie erwidert es schief.

Als Nat draußen auf den Schlüssel drückt, öffnet sie damit das hintere Auto. Ich kenne mich nicht mit Autos aus, aber auch ich weiß, dass dieser Wagen unglaublich teuer sein muss. Er sieht aus wie ein Porsche Carrera, aber in einer Farbe, in der ich noch nie einen gesehen habe. Natürlich ist er cremefarben, weil das einfach eins zu eins zu allem passt, was Alice verkörpert. „Gehört der dir?", fragt Nat verblüfft und Alice nickt schulterzuckend. „Geil", bringt meine beste Freundin nur hervor und läuft dann aufgeregt zur Fahrerseite.

Ich will nach hinten gehen, doch Alice schiebt mich sanft an meiner Hüfte zur Beifahrerseite: „Du sitzt vorne." Ich werfe ihr ein kleines Lächeln zu und lasse mich dann neben Nat plumpsen, die längst alles im Auto inspiziert. Sie lässt den Motor an, sobald Alice eingestiegen ist und grinst sofort. „Kiki, bitte behalte sie, solange du kannst", meint sie auf Deutsch zu mir und ich laufe wie immer rot an. Ich schlage ihr leicht gegen den Arm, als sie losfährt, doch sie lacht nur. „Du darfst mein Auto auch fahren, wenn Kyra mich nicht ranlässt", meint Alice von hinten und mein Gesicht wird noch wärmer als zuvor. Sie lernt definitiv zu schnell Sprachen. Nat lacht laut auf und genießt es sichtlich, wie unangenehm mir die Situation ist. „Stell dich nicht so an", sagt sie zu mir und folgt Alice Anweisung nach rechts auf die Straße zu biegen.

Es ist mir zwar unangenehm, dass die beiden so offen über mein Liebesleben reden, doch gleichzeitig überrascht es mich auch. Alice scheint wirklich kein Problem damit zu haben, dass Nat alles über uns weiß. Es ist schön zu sehen, dass es ihr wie mir geht und sie vor Nat sie selbst sein kann. Wir fahren über eine Landstraße und Nat genießt die Geschwindigkeit in vollen Zügen. Ich verbinde mein Handy mit dem Auto und mache eine von Nats Playlists an. Alice führt uns in einen kleinen Ort und zu einem Parkplatz, auf dem Nat mit einer gekonnten Bewegung einen Tick zu schnell einparkt. Alice scheint das allerdings kein bisschen zu stören, vermutlich bedeutet ihr dieses Auto nicht so viel wie es den meisten anderen bedeuten würde.

Wir laufen an einigen kleinen, süßen Häuschen vorbei und kommen dann zu einer Art großem Garten. An seinem Eingang steht ein Schild, auf dem jedoch nur schwedische Wörter draufstehen. „Der Garten wurde ursprünglich für irgendeinen Adeligen angelegt, der hier früher mal seine Sommerresidenz hatte. Mit der Zeit haben sie es aber immer mehr zu einem Platz für Schmetterlinge und andere Insekten gemacht", erklärt Alice und zeigt auf eine Reihe von Fliedersträuchern, in denen unzählige Schmetterlinge herumfliegen. Nat läuft grinsend zu den lila Pflanzen und riecht an ihnen. Ich vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen und gehe langsam über den geschotterten Weg. Auch ohne dicht an den Blumen zu stehen, kann man einen angenehmen Duft wahrnehmen. Die Sonne scheint auf einige Insektenhotels links von uns und tränkt sie in ein goldenes Licht. Es ist ein weiterer Ort, der perfekt in mein Bild von Schweden passt und ich weiß genau, warum Alice ihn mag.

Sie läuft dicht neben mir und meint: „Ich war hier als Kind häufig mit Per, weil wir mit dem Rad herfahren konnten." Ich lächele über die Vorstellung, dass die beiden wie ganz normale Kinder auf ihr Fahrrad gestiegen sind, um in den Nachbarort zu fahren. Seitdem scheint ziemlich viel passiert zu sein. „Es ist wunderschön", gebe ich zu und erzeuge damit ein stolzes Lächeln auf ihrem Gesicht. „Komm, ich zeige dir meinen Lieblingsplatz hier", sagt sie und greift nach meiner Hand, um mich hinter sich herzuziehen. Grinsend folge ich ihr an allen möglichen Blumen vorbei, bis wir zu einer Bank kommen, die von zwei Holundersträuchern eingerahmt ist. Auf den ersten Blick fällt sie zwischen all den Pflanzen gar nicht auf.

Als wir uns hinsetzen, lehnt Alice sich direkt zurück und meint: „Mach es wie ich." Sie schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Eine ihrer Haarsträhnen wird vom leichten Wind in ihre Stirn geweht und im Licht der Sonne sieht sie einfach perfekt aus. Gott, wie sehr habe ich Natasha angelogen, als sie mir damals das Bild von Alice gezeigt hat. Sie ist zu hundert Prozent alles, was ich an einem Mädchen anziehend finden könnte.

„Ich spüre, dass du nicht auf mich hörst", murmelt sie und ich werde sofort leicht rot, weil sie mich beim Starren erwischt hat. Schnell lehne ich mich ebenfalls zurück und schließe die Augen. Ich spüre das wärmende Licht der Sonne auf meinen Wangen und kann Bienen um mich herum summen hören. Es sind weder Menschen noch Autos in der Nähe zu hören und ich spüre automatisch, wie ich mich etwas mehr entspanne. Meine Hand zuckt, als Alice sie mit ihrer eigenen umschließt und meint: „Ich habe dir nie ein Bild von hier geschickt, weil ich wollte, dass du es mit eigenen Augen siehst." Lächelnd öffne ich meine Augen wieder und sehe, dass Alice mich gespannt beobachtet. Es scheint ihr sehr wichtig zu sein, meine Meinung zu diesem Ort zu erfahren.

Ich mustere sie einen Moment lang und sage dann: „Es fällt mir um einiges schwerer, sauer auf dich zu sein, wenn du mich an solch einen schönen Ort bringst." Kurz grinst sie verschmitzt, doch dann huscht auch Bedauern über ihr Gesicht. Sie rückt ein kleines Stück von mir weg und legt sich dann die Hände in den Schoß. „Ich kann dir noch nicht mehr geben. Ich weiß, dass du das erbärmlich finden musst", sagt sie und ich seufze. Vorsichtig greife ich unter ihr Kinn und hebe ihren Kopf leicht an, sodass sie mich ansehen muss. „Ich kann dir nur das Gleiche sagen, was du mal zu mir gesagt hast. Es wird nichts daran ändern, dass ich dich mag." Ein kleines Lächeln umspielt ihre Lippen und bringt ihre Augen zum Leuchten.

„Kiki?", ertönt Nats Stimme in der Nähe, sie scheint uns zu suchen. Wir stehen auf und Alice greift nach meiner Hand auf dem Weg zurück zum Hauptweg des Gartens. Ich kann mir nur schwer ein Lächeln verkneifen, mein Herz klopft sofort höher. Nats Augen werden sofort größer, als sie unsere verflochtenen Finger sieht, doch sie erwähnt es zum Glück mit keinem Wort. Stattdessen hält sie mir ihre Hand hin und jammert: „Mich hat eine Wespe gestochen." Ich muss leicht schmunzeln und Alice meint: „Gut, dass du nicht Per bist, der kann bei einem Stich sterben." Nat verzieht das Gesicht und beteuert, dass die Schmerzen sie auch umbringen könnten, doch wir lachen sie nur aus.

Alice zeigt uns noch einige schöne Pflanzen, dann müssen wir wieder zurückfahren. Diesmal darf ich das Steuer übernehmen und Nat überlässt Alice den Beifahrersitz. Für die wenigen Minuten fühle ich mich, als wäre ich mit meiner besten Freundin und meiner Freundin auf einem Roadtrip und als wäre es das Normalste auf der Welt. Alice spielt DJ und lehnt sich dann entspannt in ihrem Sitz zurück, während wir über die Landstraße fahren. „Denkst du Per wird mit Kristen in die Kiste gehen?", fragt Nat nach einigen Minuten und ich muss über ihre Direktheit schmunzeln. Alice ist für einen Moment definitiv mit der Frage überfordert, zuckt dann jedoch die Achseln.

„Mein Bruder ist sehr gut darin, wie ein Gentleman zu genießen und zu schweigen", meint sie und ich sehe Nat im Rückspiegel grinsen. „Liegt wohl in der Familie", sagt sie und zwinkert Alice zu. Ich verdrehe die Augen, doch meine Schwedin ist ausnahmsweise nicht zu Scherzen aufgelegt. „Ich habe bisher eigentlich nie genossen", murmelt sie und mein Herz schmerzt, weil ich genau hören kann, wie sehr sie unter ihrem Versteckspiel leidet. Da Nat zu den empathischsten Menschen gehört, die ich kenne, merkt sie sofort, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten ist. Sie lehnt sich mit ihren Ellenbogen auf ihre Knie, um nicht gegen das Radio anbrüllen zu müssen, als sie sagt: „Ich hoffe ihr wisst beide, dass euer Geheimnis bei mir sicher ist." Ich werfe ihr einen dankbaren Blick zu und blicke dann zu Alice, die mich ebenfalls ansieht.

Ich nicke leicht, um ihr zu zeigen, dass sie Nat vertrauen kann und schließlich meint sie in meine Richtung: „Sie ist die Ausnahme." Auf Nats Gesicht entsteht sofort ein stolzes Lächeln und es gibt mir ein warmes Gefühl in der Brust. Wie gerne würde ich Alice dafür küssen, dass sie sich die Mühe gibt, offener zu sein, wenn es um mich geht. Wenn sie so ist, fällt es mir nur noch schwerer, zu wissen, dass sie einen Freund hat.

Auch wenn er nur eine Maskerade ist, existiert er trotzdem.

Auch wenn sie mich gern hat, am Ende des Tages gehört sie mir nicht allein.


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt