19.

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Ich gehe Alice am nächsten Morgen aus dem Weg und rede erst mit ihr, als ich ihr Bescheid gebe, dass Nat uns in zehn Minuten abholt.

Meine Schwester quengelt herum, dass sie mit möchte, doch ich sage ihr, dass das nicht geht. „Wir spielen dafür nachher nochmal Halli Galli, okay?", versuche ich, sie zu besänftigen und sie willigt noch immer traurig ein. Alice kommt zu uns und sieht mal wieder echt gut aus. Sie hat ihre Haare in einem Dutt hochgesteckt und trägt nur ein enges weißes T-Shirt auf schwarzen Jeans. „Bis später, Flips", sage ich zu meiner Schwester und wuschele ihr durchs Haar. Alice hält ihr wie immer ihre Faust hin und sagt mit ihrem Akzent: „Tschüss, Finja." Sofort grinst meine Schwester und haut ihre Faust gegen die der Schwedin. Ein Teil von mir wünschte, Alice würde sie nicht mit so kleinen Gesten so glücklich machen.

Im Auto reden vor allem Natasha und Per und ich sehe die meiste Zeit aus dem Fenster. Die Stimmung beim Spiel ist ähnlich gut wie letztes Mal, der Sieg gegen den heutigen Gegner ist im Grunde Pflicht. Um zu unseren üblichen Plätzen zu kommen, müssen wir an Victorias Gruppe vorbei. Die Schwedinnen freuen sich direkt, Alice zu sehen und ich sage ihr, dass sie bei ihnen sitzen kann. Sie schüttelt jedoch kaum merklich den Kopf und folgt mir zu Ole und Mik, die uns lächelnd begrüßen. Ich setze mich neben Mik und er bietet mir direkt etwas von seinen M&M's an. „Du hast gestern echt gut gespielt", sagt er und ich danke ihm lächelnd. „Toby hat noch den ganzen Abend über dein Tor geredet", gibt er zu und ich muss lachen. Wir reden über Tobys Eigenarten und ich merke schnell, dass ich Mik mag.

Er ist offen, erwartet aber nicht von mir, zu viel zu sagen. Er erzählt vom Fußballverein bei ihnen zuhause und Ole klinkt sich in das Gespräch ein. Als Alice mich antippt, will ich ihr sagen, dass sie mich in Ruhe lassen soll, doch ihr Griff um meinen Arm wird mit einem Mal fester. Verwirrt drehe ich mich zu ihr und sie zeigt auf Nat. Meine beste Freundin hustet und schaut dann mit geweiteten Augen auf ihre Hand. Die rote Flüssigkeit gibt mir direkt Flashbacks in die Zeit, in der Nats Mutter von ihrer Krankheit erfahren hat. Ein Schauer jagt über meinen Rücken und ich dränge mich sofort an Alice vorbei.

„Alles okay?", frage ich, doch Nat hat sich scheinbar schon wieder gefangen. Sie wischt ihre Hand mit einem Taschentuch ab und lächelt schief. Noch immer ist ihre Haut ganz blass und als ich sie leise frage, ob das schon mal passiert ist, antwortet sie mir nicht. Besorgt runzele ich die Stirn und sage: „Los, ich fahre dich ins Krankenhaus." Nat verzieht sofort das Gesicht und schüttelt den Kopf: „Ich will das Spiel sehen." Normalerweise schafft meine beste Freundin es immer, mich zu überreden, doch das ist die eine Sache, bei der sie es nicht schaffen wird. Ich drehe mich zu Alice und flüstere: „Sag Caleb Bescheid, dass wir in der Notaufnahme sind." Ihre Augen weiten sich, doch ich kann ihr auf die Schnelle sowieso nichts erklären.

Ich nehme Nats Hand und ignoriere, ihre Versuche, mir zu widersprechen. Sie folgt mir nach draußen auf die Straße und meint: „Es wird schon nichts sein." Seufzend bleibe ich stehen und nicke: „Ja, das hoffe ich. Glaub aber ja nicht, dass ich irgendein Risiko eingehe." Scheinbar ist mein Ausdruck verzweifelt genug, um Nat zu überzeugen, denn ihr Ausdruck wird weicher und schließlich folgt sie mir. Auf dem Weg zum Krankenhaus muss ich ständig an Nats Mutter denken, der es einige Jahre so schlecht ging. Ich würde es nicht ertragen, das gleiche an meiner besten Freundin zu sehen. Als Nat ihre Hand auf meine am Lenkrad legt, merke ich erst, dass ich die ganze Zeit darauf herumgetrommelt habe. „Es wird alles gut, Kiki", sagt sie ruhig und ich spüre ihren Blick auf mir, kann ihn aber nicht erwidern. Ich könnte niemals damit umgehen, Natasha aus meinem Leben zu verlieren. Also versuche ich den Gedanken zu verdrängen und mich auf die Straße zu konzentrieren.

Im Krankenhaus wird Nat ziemlich schnell in Behandlung genommen und ich kann nichts anderes machen, als im Flur zu warten. Ich setze mich auf einen der Stühle und rufe meine Mutter an. Sie geht nicht ran, vermutlich hat sie ihr Handy wieder verlegt. Als auch auf dem Festnetz niemand abnimmt, gehe ich davon aus, dass sie mit meiner Schwester unterwegs ist. Auch bei Natasha zuhause geht niemand ran, weil ihr Vater sicherlich in Meetings sitzt. „Fuck", murmele ich und weiß nicht, was ich tun soll. Caleb und Toby spielen gerade, Kristen ist noch immer in Quarantäne und ich habe niemanden, der mir zur Seite stehen könnte. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und spüre, wie Tränen in meine Augen steigen. Das darf nicht wahr sein. Es darf nicht Nat treffen. Von allen Menschen bitte nicht sie.

Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt