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Es sind sechs Tage.

Sechs letzte Tage in Schweden, die sich anfühlen wie mein ganz persönlicher Alptraum.

Um mich herum genießen alle ihre Zeit mit den Menschen, die sie bald nicht mehr sehen werden. Per und Kristen sind unzertrennlich, Toby und Astrid planen bereits ihre nächsten Treffen in der Zukunft und ich sitze immer nur daneben. Anna behält Recht und ein kleiner Teil von mir weiß, dass das nur bestätigt, wie viel ich Alice bedeute. Seit wir wieder im Haus der Schweden sind, beachtet sie mich nicht mehr. Sie trägt ihren Ring wieder und ihre Miene lässt zu keiner Zeit Gefühle aufblitzen. Anna hat mir den Schlüssel für das Bad zwischen meinem und Alice Zimmer weggenommen, was wohl eine kluge Vorsichtsmaßnahme ist. Wir sind nie allein und im Grunde ist es wohl besser so. Es fällt mir schwer, so zu tun, als ginge es mir gut, doch es bleibt mir nichts anderes übrig.

Ich telefoniere häufiger mit meiner Mutter und sie merkt mir an, dass ich nach Hause möchte. Es wird mir weh tun zu gehen, doch es wird nicht schlimmer sein, als hier zu sein. Hier, wo Alice so nah ist und doch so fern. Am Mittwochabend sitze ich in Nats Armen und weine in ihre Schulter, bis ich keine Tränen mehr übrig habe. Ich sage ihr, dass ich nicht bereit bin, über die Gründe zu reden und sie akzeptiert es. In den letzten Nächten schlafe ich bei ihr im Zimmer und verbringe auch den ganzen Tag an ihrer Seite. So wie früher, als ich noch nicht wusste, wie selbstbewusst ich sein kann.

Per fragt mich einmal, ob etwas zwischen mir und Alice vorgefallen ist, doch ich schüttele den Kopf. Er mustert mich einen Moment lang und legt dann seine Hand auf meinen Arm. „Alice hält mich für den kleinen Jungen, der nichts mitbekommt, aber der bin ich nicht mehr. Ich weiß durchaus, dass es nicht Ivar war, der sie über Monate hinweg jeden Abend am Telefon zum Lachen gebracht hat." Meine Augen weiten sich leicht, er wusste die ganze Zeit über uns Bescheid. „Ich kann schon noch Englisch von Schwedisch unterscheiden", meint er und zwinkert mir zu. Ich kann nicht anders, als leicht zu schmunzeln. Er wusste es die ganze Zeit, doch er hat Alice nie dazu gedrängt, darüber zu reden.

„Ist es okay für dich?", frage ich frei heraus und er lächelt verschmitzt. „Erstens ist das völlig egal, weil es Alice Leben ist und nicht meins und zweitens weiß ich eine Sache mit Sicherheit. Ich habe meine Schwester noch nie so glücklich erlebt wie in den letzten Wochen und der Grund ist ganz sicher kein alberner Reichtum oder die Gunst unserer Eltern." Mein Herz wird warm bei seinen Worten und ich kann nicht anders als ihn zu umarmen. Überrascht erwidert er die Umarmung und streicht mir mit seiner Hand über meinen Rücken.

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Zum Abschluss des Austausches gibt es eine große Feier in der Schule. Entgegen den Vorschriften schmuggeln einige Schweden auch Alkohol mit in die Aula, sodass die meisten nach einer Weile auch bereit sind, sich auf der Tanzfläche auszuprobieren. Ich trinke ein bisschen Bowle, sitze jedoch die ganze Zeit nur am Tisch neben Toby und Astrid. Hin und wieder schweift mein Blick durch den Raum und bleibt schließlich an Alice hängen, die an einem anderen Tisch sitzt und mich ebenfalls ansieht. Einen Moment lang sehen wir uns nur an, doch dann spannen sich ihre Gesichtszüge an und sie trinkt ihr Glas mit wenigen Schlucken aus. Noch immer fühlt es sich an meinem Finger so an als trüge ich ihren Ring.

Morgen fliegen wir nach Hause und ich weiß nicht, ob wir uns dann jemals wiedersehen werden. Ich beobachte Nat und Caleb auf der Tanzfläche und spüre, wie neidisch ich darauf bin, dass sie ihre Beziehung so ausleben können. Am liebsten würde ich mich hemmungslos betrinken, doch ich habe zu viel Angst davor, was ich dann tun würde. Es fällt mir schon im nüchternen Zustand unglaublich schwer, mich von Alice fern zu halten. Zum Glück werde ich davon abgelenkt, dass Victoria sich zu mir setzt und mit mir über unser bevorstehendes Abschlussjahr redet. Seit klar ist, dass zwischen uns nichts entstehen wird, sind unsere Gespräche besser geworden. Ich sage ihr, wenn sie arrogant klingt und sie sagt mir, wenn ich mal wieder zu schüchtern bin, die Wahrheit zu sagen.

Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt