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Unser erster Schultag in Schweden ist ein wahres Erlebnis und ich komme aus dem Staunen kaum heraus.

Die Schule selbst ist ein großes, altes Gebäude, das mich etwas an Hogwarts erinnert und einen ganz eigenen Charme ausstrahlt. Sie ist viel schöner als unsere, hat aber scheinbar ein wesentlich kleineres Sportangebot. Da alle Schweden eine Schuluniform tragen, fällt zumindest nicht gleich ins Auge, dass es Unterschiede zwischen den Familien gibt. Beobachtet man jedoch die Schüler*innen in den Pausen, zeigt sich ein klares soziales Gefälle und es ist noch deutlicher als in Deutschland. Zuhause ist mir nie so deutlich aufgefallen, dass Per von seinen Mitschülern ähnlich bewundert wird wie seine Schwester. Vielleicht liegt es daran, dass Mik und Ole das ganze durch ihr normales Verhalten ausgleichen. Wir sitzen in der Pause bei ihnen und Pascal sitzt ebenfalls bei uns. Er und Mik sind eindeutig total ineinander verschossen, springen aber die ganze Zeit nur umeinander herum, ohne dass einer den ersten Schritt macht. Toby hat noch nicht wieder mit Astrid geredet, die bei Alice und ihren Freundinnen an einem anderen Tisch sitzt.

Heute Morgen war Alice natürlich nicht mehr in meinem Bett, doch sie kam zu mir ins Bad, als ich mich fertig gemacht habe und hat mich bestimmt zehn Minuten mit ihren Küssen davon abgehalten, mir die Haare zu machen. Es kann gut sein, dass sie es nur gemacht hat, weil sie Lust dazu hatte, doch egal warum, es hat mir bisher sehr gut durch den Tag geholfen. Es stört mich nicht so sehr, dass sie mich kaum beachtet, weil sie auch nicht viel mit anderen redet. Eindeutig versuchen viele der Mädchen mal wieder ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, doch sie scheitern ziemlich kläglich daran. Hier wirkt Alice noch unantastbarer als in Deutschland und ich bin wirklich froh, dass ich sie nicht hier kennengelernt habe. Nie hätte ich mich getraut, auch nur ein Wort mit ihr zu Wechseln. Gegen ihre Ausstrahlung wirkt Victorias vollkommen austauschbar.

Da Vicky bei einer von Alice Freundinnen wohnt, sitzt sie ebenfalls an ihrem Tisch. Sie hat mich heute Morgen umarmt und wir haben kurz geredet, doch zum Glück hat Nat mich recht schnell aus der Situation retten können. Sie und Caleb beschließen, den Jungs nach der Schule beim Hockeytraining zuzusehen und ich schließe mich ihnen an. Ausnahmsweise scheint sogar Kristen sich für Sport zu interessieren, auch wenn wir uns denken, dass ihr Interesse mehr dem Spieler als dem Spiel gilt. Die Schule ist erstaunlicherweise einer der wenigen Orte, den die Geschwister mit ihren eigenen Autos erreichen, statt gefahren zu werden. Wir sitzen bereits alle in Pers Auto, während wir auf Alice warten. Als sie einsteigt, sagt Per direkt etwas Schwedisches zu ihr und sie erwidert etwas, das eindeutig genervt klingt. Er fragt sie etwas und sie antwortet scheinbar etwas, das Per überrascht. Dann zuckt er jedoch die Achseln und meint, während er losfährt: „Al kommt mit uns mit." Mein Mund zuckt direkt, doch ich unterdrücke die Glücksgefühle, die in mir aufkommen.

Ich kannte die Hockeyplätze schon von Bildern, doch inecht wirken sie viel größer. Sie sind nicht wie die Tennisplätze in einem Club, sondern gehören zum Sportgelände der Universität der Stadt. Während Per sich umziehen geht, setzen wir uns auf die kleine Tribüne neben dem Platz. Ich setze mich neben Nat, die direkt eine Dose Fanta auf ihrem Rucksack holt und mireinen Schluck anbietet. Die kühle Flüssigkeit tut bei der warmen Sonne richtig gut und aus Gewohnheit, die ich wohl noch aus Deutschland habe, halte ich Alice die Dose hin. Sie hat sich gerade erst zu mir gesetzt und sieht mich überrascht an. Dann lächelt sie jedoch leicht und nimmt das Getränk entgegen, um ebenfalls einen Schluck zu nehmen. Da Nat Kristen in ein Gespräch über die schicke Schule verwickelt, kann ich mich etwas mehr zu Alice drehen.


„Warum bist du genervt von deinem Bruder?", frage ich sie und sie wirft mir einen kurzen, prüfenden Blick zu. Dann schmunzelt sie leicht und meint: „Dir entgeht wohl nichts. Gut, dass dein Schwedisch mangelhaft ist." Ich schlage ihr unbemerkt gegen ihr Bein, doch sie lacht nur leise. Dann wird sie wieder etwas ernster und murmelt: „Es gefällt ihm nicht, dass ich vor euch unhöflich bin." Ich muss leicht schmunzeln, weil es so viel Sinn ergibt. Per ist wahrscheinlich der höflichste Mensch, den ich je kennengelernt habe und verhält sich zu jeder Zeit korrekt und angemessen. Alice hingegen schwankt dabei ständig zwischen den Extremen. Die meisten würden sie wohl eher weniger als unhöflich und mehr als arrogant bezeichnen, wenn sie ihr Verhalten sehen würden. Sie kann mit Leichtigkeit so empathisch sein wie ihr Bruder, doch sie zeigt es nahezu nie, weil sie so damit beschäftigt ist, ihr wahres Ich zu verstecken.

Ich schaue zu Per, der gerade in seinen Sportklamotten aufs Feld läuft und erinnere mich an mein Gespräch mitihm in Deutschland. „Er weiß, dass wir dich trotzdem mögen", sage ich ehrlich und Alice schnaubt leicht. „Erstens, mag mich eine von euch ganz sicher nicht", sagt sie extra leise und ich muss leicht lachen. „Und zweitens macht er sich mehr Gedanken darum, was ich von euch halte." Ich denke an all ihre Freundinnen, die ihr so gerne gefallen wollen und verstehe, was sie meint. „Weil dich sowieso jeder anhimmelt", sage ich laut, was ich denke und Alice verzieht leicht ihr Gesicht. Wenigstens scheint sie nicht stolz darauf zu sein, wie sie auf andere wirkt. Dann flackert jedoch etwas in ihren Augen auf und ich weiß sofort, dass sie mich ärgern wird. „Jeder? Das schließt dann auch mein deutsches Mädchen mit ein", haucht sie und wie immer werde ich leicht rot.

Das Training fängt an und Kristens Aufmerksamkeit lenkt sich auf das Feld. Ich sehe keine Möglichkeit, weiter mit Alice zu reden, ohne dabei gehört zu werden. Also lege ich stattdessen meine Hand auf ihre zwischen uns und kralle meine Fingernägel mit Absicht etwas fester in ihre Haut. Ich kann sehen, wie sie sich leicht anspannt, jedoch so tut, als sei sie schwer am Hockeytraining interessiert. „Wen findest du am besten von denen?", fragt Nat Kristen, als alle Spieler auf dem Feld sind. Kristen tut so, als würde sie überlegen und zeigt dann auf einen blonden Typen in der Nähe des Tors. Sie schaut rüber zu mir und Alice und meint dann: „Ivar ist übrigens eine echte Sahneschnitte, wann sehen wir ihn wieder?"

Ich bin mir relativ sicher, dass das das erste Mal ist, dass ich mitbekomme, wie Kristen nett zu Alice ist. Meine Freundin richtet sich etwas mehr auf und ich sehe genau, dass sie sich wieder mehr verschließt. „Er wird nicht so oft da sein, wenn ihr hier seid. Schließlich will ich ein ebenso guter Gastgeber sein wie du", meint sie trocken und ich muss mir ein Grinsen über ihre Stichelei verkneifen. Kristen nickt nur und fragt: „Wie habt ihr euch kennengelernt?" Unbemerkt löse ich meine Hand von Alice und lenke meinen Blick aufs Feld. Ich habe nur wenig Lust darauf, die Geschichte von Alice und ihrem Freund zu hören. „Er spielt auch Tennis und seine Eltern sind Mitglieder im Club wie meine", erklärt sie und legt ihre Arme auf ihren Schoß. Ich hatte bisher noch keine Zeit, Alice mehr über Ivar auszufragen, sodass das auch neue Informationen für mich sind.

Um nicht mehr Teil des Gesprächs zu sein, lehne ich mich zurück und streiche mir meine Haare hinter mein Ohr. Die Sonne wärmt angenehm mein Gesicht und ich genieße es, dass Alice es nicht sein lassen kann, mich anzusehen. Ich kann erkennen, wie sie sich wieder leicht anspannt und versucht, sich auf Kristens Folgefragen zu konzentrieren. Nat scheint den beiden nicht wirklich zuzuhören, sondern wirklich den Sport zu verfolgen. Als sie sieht, wie ich sitze, drückt sie mich an der Schulter noch weiter zurück und meint: „Mach dich mal bequemer."

Also rutsche ich mit meinem Rücken zurück gegen die nächste Stufe der Tribüne, sodass Nat sich an mich lehnen kann. Sie nimmt noch einen Schluck von der Fanta und reicht sie mir dann über ihren Kopf. Alice wirft mir einen weiteren Blick zu, doch diesmal kann ich nicht so gut daraus lesen. „Guck dir die Pässe an", meint Nat und ich folge ihrem Blick. Es ist tatsächlich sehr interessant, den Spielern zuzusehen, sodass die Zeit ziemlich schnell vergeht.


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt