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Als wir zuhause ankommen, ist meine Schwester noch wach und kommt sofort zu uns gelaufen.

„Können wir eine Übernachtungsparty machen? Bitte, bitte", bettelt sie mich an und ich muss leicht schmunzeln. Alice schaut mich fragend an, sodass ich für sie übersetze. Sie grinst sofort und hält Finja dann ihre Hand hin. Sofort strahlt meine Schwester übers ganze Gesicht und folgt der Schwedin fröhlich in ihr Zimmer. „Ich hoffe du weißt, was du dir da antust", sage ich zu Alice, doch sie grinst nur und erwidert: „Du hängst da genauso mit drin." Mein Blick fällt auf mein Bett und obwohl es groß ist, ist es nicht für drei Personen gemacht.

Also gehe ich rüber in mein kleines Zimmer, um eine Matratze zu holen und mich umzuziehen. Ich ziehe mir direkt mein Shirt über den Kopf und gehe an meine Kommode, um ein Schlafshirt herauszuholen. „Brauchst du Hilfe beim Tragen?", ertönt Alice Stimme und keine Sekunde später steht sie in der Tür. Als sie mich sieht, bleibt sie sofort wie angegossen stehen und ihre Augen weiten sich leicht. Sie mustert mich einen Tick zu lang und ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Dann betrachtet sie den kleinen Raum mit der Matratze darin und runzelt die Stirn: „Hast du hier geschlafen?" Schnell ziehe ich mir mein Shirt über und gehe einen Schritt auf sie zu. Sie wirkt ausnahmsweise auf eine Weise zurückhaltend, die ich sehr gut von mir selbst kenne. Vielleicht ist das meine einzige Chance, sie jemals aus der Fassung zu bringen. Also grinse ich schief und meine: „Mitleid steht dir nicht so gut, Ally."

Dann gehe ich an ihr vorbei und schnipse ihr dabei gegen ihr Ohr. Sie versucht, mich festzuhalten, doch ich schaffe es, zu entwischen und weg zu laufen. Ich höre, wie sie lachen muss und mir hinterherläuft. Schnell laufe ich zu meiner Schwester und lasse mich auf mein Bett fallen. Ich hebe sie vor mich, als wäre sie mein menschlicher Schutzschild und Alice schüttelt direkt grinsend den Kopf. „Unfaire Mittel", meint sie nur und zeigt meiner Schwester dann mit Zeichensprache, dass sie mich angreifen soll. Das lässt sich Finja natürlich nicht zwei Mal sagen und dreht sich sofort um, um mich zu kitzeln. Ich muss lachen und Alice nutzt den Moment sofort, um sich meine Arme zu schnappen und mich festzuhalten. Sie setzt sich hinter mich und hält meine Arme hinter meinen Körper, um meiner Schwester die Möglichkeit zu geben, mich zu quälen. Ich habe keine Chance, mich zu wehren und muss irgendwann um Erbarmen flehen.

Nach einigen Sekunden gibt meine Schwester meinen Bitten nach und lässt sich auf mich drauf fallen, sodass ich automatisch auch auf Alice falle. Außer Atem sage ich: „Ich hasse euch." Alice lässt meine Arme wieder los und als ich drohe, abzurutschen, schlingt sie ihre Arme um meinen Bauch. „Du hast angefangen", flüstert sie mir zu und ich bekomme sofort eine Gänsehaut, als ich ihren Atem an meinem Ohr spüre. Ich kann ihre Körperwärme an meinem Rücken spüren und meine Haut fühlt sich an, als würde sie unter ihren Armen glühen. Ich schaue herunter auf meine Schwester und mir fällt ein, was Alice mir im Park erzählt hatte.

Wie von selbst findet meine Hand den Weg an ihr Handgelenk. Sie trägt heute ein hübsches silbernes Armband, das aussieht, als seien darin echte Diamanten verarbeitet. Vorsichtig streiche ich über das edle Metall und frage: „Würdest du für sie etwas spielen? Als Abschiedsgeschenk?" Ich spüre, wie Alice direkt leicht schmunzeln muss. „Nur wenn du dabei draußen wartest", flüstert sie in mein Ohr und kitzelt mich damit. Sie entzieht mir ihre Hand, jedoch nur, um mir gegen mein Ohr zu schnipsen, so wie ich es bei ihr gemacht habe. „Ich liebe übrigens deinen Helix", haucht sie und ich richte mich schnell auf, um nicht schon wieder eine Gänsehaut zu bekommen. Es gefällt mir gar nicht, was Alice gerade in mir auslöst.

Schnell hebe ich meine Schwester neben mich aufs Bett und stehe dann auf, um schnell aus dem Zimmer zu huschen. Bevor ich ins Zimmer meiner Mutter gehe, laufe ich ins Bad und mache mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Ich betrachte mein Spiegelbild und sehe an meinen roten Wangen, dass mich Alice Nähe gerade nicht so kalt gelassen hat, wie ich es gern hätte. Ich atme tief ein und aus und versuche mich selbst daran zu erinnern, wie ignorant sie jedes Mal ist, wenn ihre Freundinnen anwesend sind. „Sie ist nur verwirrend, aber morgen ist sie weg", murmele ich vor mich hin und gehe dann zu meiner Mutter. Sie freut sich sehr, als ich ihr erzähle, dass ihre alte Gitarre mal wieder bespielt werden wird. Als ich klein war, hat sie mir öfters Lieder vorgespielt, doch als es mit meinem Vater schwieriger wurde, hat das irgendwann einfach aufgehört.

Die Augen meiner Schwester werden direkt groß, als sie die Gitarre sieht und sie kuschelt sich ganz aufgeregt in ihre Decke. Ich nicke Alice zu und sie grinst leicht, auch ihre Wangen sind rot verfärbt. Wie versprochen verlasse ich das Zimmer und lasse mich von außen gegen die verschlossene Tür sinken. Ich höre, wie Alice die Gitarre stimmt und schließlich leise anfängt etwas zu spielen. Als ihre Stimme erklingt, bekomme ich sofort Gänsehaut auf meinen Armen und schließe meine Augen. Ich horche den Worten, die ich nicht verstehen kann und die mich doch trotzdem erreichen. Es klingt noch schöner, als ich erwartet hätte und berührt mich tief in mir drin.

Ich muss daran denken, wie wir in unserem alten Haus manchmal nachmittags im Wohnzimmer saßen und einer von Papas Platten lauschten. Meine Mutter tanzte mit einem Glas Wein durch die Küche und die Sonne schien durch unsere riesigen Fenster hinein. Wir waren glücklich, doch wenn ich jetzt daran denke, weiß ich nicht, ob all das wirklich wahr war. Glück bedeutet für mich mittlerweile etwas ganz anderes. Es bedeutet, meine Schwester spielen und meine Mutter lächeln zu sehen. Es bedeutet, dass Nat sich in unserer kleinen Wohnung meistens wohler fühlt als in ihrem endlosen Haus. Tränen steigen in meine Augen und erst als ich fast hinfalle, weil sich die Tür öffnet, merke ich, dass der Song vorbei ist. Schnell springe ich auf und wische mir die Tränen von meinen Wangen.

Alice mustert mich und wirkt überrascht von meinem offensichtlichen Gefühlsausbruch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das nicht schon mal bei jemandem bewirkt hat. Sie sieht mir in die Augen und wieder werde ich das Gefühl nicht los, dass uns etwas verbindet. Sie lächelt schief und haucht dann: „Empathie steht dir nicht gut, Kiki." Sofort muss ich grinsen und schiebe sie aus dem Weg, um wieder ins Zimmer zu können. Bevor ich mich auf der Matratze auf dem Boden niederlassen kann, die ich mit der Gitarre mitgebracht habe, schubst Alice mich in Richtung Bett. „Du schläfst da", sagt sie und lässt keine Widerrede zu. Also lege ich mich zu meiner Schwester, die sich sofort an mich kuschelt. Sie wirkt mittlerweile ziemlich müde und schläft direkt ein, als ich beginne, ihr durchs Haar zu streichen.

Alice geht nochmal ins Bad und kommt dann abgeschminkt wieder. Es ist nicht das erste Mal, dass ich sie so sehe, doch es überrascht mich aufs Neue, wie gut sie von Natur aussieht. „Gibt es eigentlich irgendwas an dir, das nicht perfekt ist?", frage ich und sie schmunzelt leicht. Dann kommt sie zu mir ans Bett, setzt sich darauf und streicht ihre Haare von einer Seite zur anderen. Sie lehnt sich zu mir und klappt ihr Ohr so nach unten, dass ich an ihrem Haaransatz eine Narbe erkennen kann. „Wenn du mein Äußeres meinst, dann ist das meine Macke", meint sie und seufzt dann leicht. „Dass mein Inneres nicht perfekt ist, weißt du wohl am besten", murmelt sie dann und will aufstehen, doch ich greife nach ihrem Handgelenk. Sie schaut mich verwirrt an, doch ich zeige auf das Bett.

„Es ist genug Platz", meine ich und füge dann schnell hinzu, „Finja freut sich, wenn sie neben dir aufwacht." Für einen Moment betrachtet Alice mich nur, dann lächelt sie leicht und klaut sich ein Stück von Finjas Decke. Meine Schwester murmelt etwas im Schlaf und dreht sich direkt zu ihrer liebsten Schwedin. Alice zuckt leicht, als das kleine Mädchen sich halb auf sie legt, doch dann werden ihre Augen ganz warm. „Gute Nacht, Nervensäge", murmele ich und mache das Licht aus.

Als ich mich bereits weggedreht habe, erwidert Alice: „Gute Nacht, Idiot."


Only the rain knowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt