Die Wochen nach meinem Sportunfall sind auf gewisse Weise mein persönlicher Horror und Wunschtraum zugleich.
Ich kann kein Fußball spielen und muss mich ständig von Nat herumkutschieren lassen, doch gleichzeitig merke ich, dass es viele Menschen gibt, die sich um mich sorgen. Ich lerne eine völlig neue Seite an Toby kennen, als er an einem Abend bei Caleb neben mir in Tränen ausbricht, weil er Liebeskummer hat. Er hatte Angst, dass seine Schwedin mit ihm Schluss machen würde und hat sie deshalb von sich gestoßen, bevor sie ihn verletzen konnte. Ich erfahre unglaublich viel über das zierliche Mädchen mit dem Pixie-Cut. Sie gehört zu der Freundesgruppe von Alice, aber nicht zu ihren Nachläuferinnen und heißt Astrid. Sie steht auf Krimis jeglicher Art und liebt die Serie Sherlock. Wenn sie lacht, fängt sie manchmal an zu grunzen und schämt sich danach dafür. Toby ist eindeutig Hals über Kopf verliebt und ich mag diese Seite an ihm wirklich gern. Ich weiß noch immer nicht, warum er gerade mir dabei so sehr vertraut, doch ich schätze es sehr. Er lenkt mich von meinem eigenen Gefühlschaos ab und dafür bin ich ihm dankbar.
Es ist nicht so, dass es bei mir schlecht laufen würde. Alice ruft mich fast jeden Abend an und wir telefonieren stundenlang. Wir reden über Filme, über Fußball, über meine Familie und über jede Sache, die wir am Tag essen. Wir reden über alles, aber nie über uns. Vielleicht, weil es sich dann leichter anfühlt, getrennt zu sein, vielleicht, weil ich Angst davor habe, sie wieder zu verlieren. Häufig liege ich in meinem Bett und drehe den Ring an meinem Finger. Unser Bild aus dem Fototautomaten hängt an meinem Spiegel und ich werfe fast jeden Morgen einen Blick darauf. Das alles führt dazu, dass ich Alice unglaublich heftig vermisse. Durch meinen Fuß habe ich leider wenig Ablenkung und viel zu viel Zeit, um nachzudenken.
Drei Tage nachdem die Schweden uns verlassen haben, nimmt Nat mich mit zu sich und schiebt uns Tiefkühlpizzen in den Ofen. Dann kommt sie mit einer Dose Red Bull und einer Fanta Exotic für sich zu mir und setzt sich gegenüber von mir auf den Stuhl. „Also ich denke ich bin jetzt bereit für die Geschichte", meint sie und stellt das Red Bull zwischen uns. Ich will danach greifen, doch sie zieht es weg und hebt fragend eine Augenbraue. Ich seufze und frage: „Was willst du hören?" Sie wirft mir einen Blick zu, der so viel sagt wie „Dein Ernst" und lehnt sich zurück.
„Fassen wir mal zusammen", meint sie und tut so, als würde sie angestrengt nachdenken. „Du hast dich unglaublich dagegen gewehrt, dass Alice zu dir zieht, obwohl ich es dir geraten habe. Erste dumme Entscheidung." Ich verdrehe die Augen, lasse sie aber weiterreden. „Keine drei Wochen später kann ich dir an der Nasenspitze ansehen, dass du zum ersten Mal in deinem Leben tatsächlich Bock auf Sex hast." Ich verziehe leicht das Gesicht und werde sofort rot, weil Nat mich natürlich durchschauen kann. „Darf ich eine Theorie äußern?", fragt sie mich und ich nicke leicht verunsichert. Sie überlegt kurz und sagt dann:
„Ich denke, es lief wie folgt: Dieses Mädchen hat dich wahnsinnig gemacht, weil sie in deinen persönlichen Raum eingedrungen ist. Sie hat dich genervt, weil sie dir keine Wahl gelassen hat und was dich wirklich daran gestört hat, war, dass es dich nicht wirklich gestört hat. Weil sie dich nicht so verunsichert wie Vicky, sondern dich auf magische Art und Weise sogar selbstsicherer macht. Warum also habt ihr nicht einfach ausgelebt, dass ihr euch heiß findet?"
Ich weiß sofort, dass diese Frage nicht an mich gerichtet ist und sie sofort weiterreden wird. „Ich weiß genau, was du gerne hättest, also muss sie der Grund dafür sein. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie aus einem homophoben Elternhaus kommt und ihr ganzes Umfeld sie massiv unter Druck setzt", meint sie, stellt das Red Bull wieder vor mich und verschränkt ihre Arme vor ihrer Brust. „Und wenn ich ehrlich sein müsste, würde ich sagen, dass ich längst weiß, was bei Alice zuhause abgeht", fügt sie hinzu und lächelt leicht triumphierend. Ich runzele verwirrt die Stirn, bis ich kapiere, dass sie mit Per geredet haben muss. Seufzend gebe ich nach, öffne das Red Bull und fange an zu erzählen.
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„Als die beiden sich geküsst haben, bin ich innerlich durchgedreht. Ich brauchte ein bisschen, um zu kapieren, dass das nichts mit Victoria zu tun hatte", erkläre ich und Nat nickt lächelnd. „Ich meine, du kannst dir wahrscheinlich schwer vorstellen, was ich an Alice finde, weil du sie immer nur bei den anderen erlebt hast. Aber wenn wir allein sind, ist sie ein anderer Mensch. Sie ist viel nahbarer, bodenständiger und hat ein großes Herz." Noch immer lächelt Nat und meint: „Ich habe gesehen, wie sie mit Finja umgeht und wie jeder weiß, ist das der Weg zu deinem Herzen." Ich schnaube leicht darüber, dass sie wie immer ins Schwarze trifft und versuche abzulenken, indem ich sie frage: „Seit wann weißt du es?" Sie grinst und nimmt einen Schluck von der Fanta, bevor sie meint: „Davon abgesehen, dass ich es geplant habe?" Ich verdrehe die Augen, doch Nat lacht nur und läuft in die Küche, um die fertigen Pizzen zu holen.
Sie stellt mir eine hin und lässt sich dann wieder nieder, um sich direkt am ersten Stück zu verbrennen. Nachdem sie ein bisschen vor sich hin geflucht hat, sieht sie mich wieder an und scheint vergessen zu haben, worüber wir geredet haben. „Der Moment, als du...", will ich ihr auf die Sprünge helfen und sie nickt direkt. „Sorry", murmelt sie und pustet dann, bevor sie noch einen Bissen Pizza nimmt. „Als ich im Krankenhaus war, habe ich natürlich erstmal darüber nachgedacht, was Vicky wohl für dich empfindet. Es gab da allerdings auch diesen einen Moment, in dem sie mit mir geredet hat und du noch immer aussahst wie ein Häufchen Elend. Nichts für Ungut." Ich verdrehe wie immer die Augen, bin aber gespannt, was sie sagen möchte. „Jedenfalls habe ich kurz einen Blick auf Alice erhaschen können und oh mein Gott, wie sie dich angesehen hat. Da habe ich gewusst, dass sie dich gernhat. Dann musste ich natürlich noch abchecken, ob du sie auch gut findest. Das war tatsächlich schwieriger als gedacht."
Ich grinse leicht, weil es mich auf gewisse Weise stolz macht, dass sie es mir nicht sofort angesehen hat. Nat nimmt einen weiteren großen Bissen, bevor sie nuschelt: „Ist dir klar, dass die Toilettenkabinen nicht schalldicht sind?" Verdattert lasse ich mein Pizzastück sinken und brauche einen Moment, um zu kapieren, dass sie die Person neben uns in der Kabine war. „Du Arschloch", bringe ich nur raus und wünschte, ich könnte aufstehen, um sie zu boxen. Nat lacht zufrieden und ich schüttele den Kopf über meine beste Freundin. „Das heißt, du wusstest es die ganze Zeit über", sage ich mehr zu mir selbst und sie grinst dämlich, während sie genüsslich die Pizza kaut. Ein Teil von mir könnte sie dafür erwürgen, doch gleichzeitig bin ich unheimlich erleichtert darüber, dass sie nicht enttäuscht von mir ist.
„Tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe", gebe ich zu, doch sie winkt ab. „Schwamm von gestern", meint sie und ich muss darüber grinsen, dass sie absichtlich die Sprichwörter vermischt. „Erzählst du mir, was passiert ist, nachdem mein Idiotenfreund bei euch reingeplatzt ist?", fragt sie und ich tue ihr den Gefallen. Ich erzähle ihr von Alice Angst und von ihren Worten, bevor sie am Sonntag gefahren ist. Als ich ihr den Ring an meinem Zeigefinger zeige, werden ihre Augen groß. „Ich wusste doch, dass der nicht von dir ist", murmelt sie und streicht über das Schmuckstück. Sie tippt auf die kleinen Steinchen, die im Edelmetall verarbeitet sind und fragt dann: „Wie gestört teuer ist der?" Ich runzele fragend die Stirn, als ob ich Alice das gefragt hätte. „Junge, als ob du nicht gegoogelt hast", sagt Nat empört, doch ich schüttele den Kopf. „Du bist eine schreckliche Person", meine ich, doch meine Freundin lacht nur.
Es tut unglaublich gut, ihr endlich alles erzählen zu können und nichts mehr verstecken zu müssen. Sie fragt nach jedem Detail und freut sich so sehr für mich, als wäre es ihr eigenes Glück. Als ich abends im Bett liege und nach dem Telefonat mit Alice mal wieder ihren Ring betrachte, ziehe ich ihn von meinem Finger. Ich finde keine Marke, sondern nur ihren Namen, der in die Innenseite graviert ist. Vermutlich wurde er extra für sie angefertigt. Ich muss lächeln und bin froh, dass ich nicht weiß, wie viel er kostet.
Für mich ist er wertvoller als alles Geld auf der Welt.
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Only the rain knows
RomanceKyra ist seit sie denken kann verknallt in ein Mädchen, das nicht mal weiß, dass sie existiert. Sie ist zu schüchtern, um den nächsten Schritt zu wagen, als aus dem Nichts jemand in ihr Leben tritt, der alles verändern wird. Es ist sehr viel leicht...